Kapitel 13

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Ich war irgendwann erschöpft in einen unruhigen Schlaf gesunken und kurz vor dem Schellen des vorsintflutlichen Weckers aufgewacht. Ich fühlte mich wie zerschlagen, was ein guter Grund gewesen wäre, die Verabredung mit dem Fräulein Eva abzusagen. Doch hatte ich die Gedanken, die mir letzte Nacht durch den Kopf gegangen waren, nicht vergessen. Und sollte ich wirklich und tatsächlich mit dem Gedanken spielen, in den Lauf der Geschichte einzugreifen, dann war der erste Weg auf dem Schritt dorthin die Aufrechterhaltung der Bekanntschaft mit Eva...

Minutenlang starrte ich auf den Holzfußboden, ohne wirklich etwas zu sehen. Dann versuchte ich der Anspannung mit einem bewussten Schütteln meiner Schultern Herr zu werden und stand schließlich auf. Von Lu hatte ich mich bereits gestern Abend verabschiedet, denn Herr Huber wollte ihn um kurz nach sieben zum Bahnhof bringen. Ob wir am Wochenende unverändert da weitermachen konnten, wo wir aufgehört hatten?

Ich würde mich dann gegen Frau Hubers Missbilligung wappnen müssen... oder sollten wir lieber weiterhin verbergen, was sich zwischen uns entwickelt hatte? Stand sie nicht irgendwie mit Magdalenas Mann in Verbindung? So viele Fallstricke...

Kurzentschlossen eilte ich zum Fenster, wo ich die Gardine beiseiteschob. Tatsächlich hatte ich den richtigen Zeitpunkt erwischt, um noch einen Blick auf Lu werfen zu können. Er stand samt kleinem Reisekoffer vor dem Ungetüm eines altmodischen Autos und wechselte noch ein paar Worte mit unserer Gastgeberin. Die bereits aufgegangene Sonne warf ein warmes Licht in den Hof und ließ sein dunkles Haar glänzen.

Wie immer sah er wie aus dem Ei gepellt aus, obwohl er nur lässigste Kleidung trug. Wie ich inzwischen wusste gab es hier eine – natürlich kalte – Dusche im Erdgeschoss des Gebäudes, die von allen Bewohnern benutzt wurde. Während Lu an dergleichen gewöhnt war, erfasste mich schon allein bei dem Gedanken an kaltes Wasser ein gewisses Grausen, doch heute würde es leider nicht mehr zu umgehen sein.

Als hätte Lu meine Gedanken an ihn gespürt, warf er einen kurzen Blick hoch zu meinem Fenster, entdeckte mich und lächelte. Völlig entrückt erwiderte ich es. Oh Mann, Lena, dich hat es echt erwischt... Ich seufzte amüsiert und vermisste ihn schon jetzt - seine beruhigende Anwesenheit, die liebevollen Blicke und den Duft seines After-shaves. Wobei man jetzt wohl Rasierwasser sagte. Ich kicherte albern und trat dann noch immer erheitert zum Schrank, aus dem ich einen Bademantel zog.

Eine Viertelstunde später kehrte ich bibbernd in mein Zimmer zurück. Aber das Wasser hatte zumindest meine Lebensgeister geweckt und die Müdigkeit vertrieben, ich fühlte mich jetzt wieder klarer im Kopf. Jedenfalls klar genug, um meine Gedanken um das kreisen zu lassen, was mir keine Ruhe mehr ließ. Mit einer seltsamen Entrücktheit, als ginge es gar nicht um mich, ging ich mögliche Handlungsoptionen durch, während ich mir wieder ein Dirndl überstreifte und mich an den Knöpfen zu schaffen machte, die dieses Mal seitlich angebracht waren.

Die vermeintlich sichersten Methoden waren gleichzeitig die am wenigsten durchführbaren. Denn wo sollte ich im Deutschland der damaligen Zeit eine Waffe oder Sprengstoff herkriegen? Es gab schließlich kein Internet zur Recherche... nicht dass ich früher überhaupt über dergleichen nachgedacht hätte! Und ich bezweifelte außerdem, dass man beides ohne Vorkenntnisse anwenden könnte.

Bei dem Gedanken an ein Messer, das sich ja in jeder Küche befand, schauderte ich. Mit zitternden Fingern band ich mit dem Band der Schürze eine Schleife. Nie und nimmer konnte einem so etwas gelingen. Diese ganzen Gedankengänge waren überhaupt völliger Schwachsinn! Doch unablässig tönte eine penetrante Stimme in meinem Kopf: Du musst etwas tun, Lena... Du bist die Einzige, die weiß, was noch alles passieren wird...

Ich kann das nicht, okay?!, schrie ich ungehalten in den Raum hinein. Doch die Wände meines Zimmers schienen mich nur mit stummem Vorwurf anzustarren. Ich drehte mich weg und biss mir auf die Lippen. Flocht dann mit bebenden Fingern die langen Haare geübt zu zwei Zöpfen. Links eine Strähne, rechts eine Strähne. Bis die Haare immer dünner wurden und nach einem Gummiband verlangten, mit dem ich glücklicherweise noch immer gesegnet war. Und das Gleiche auf der anderen Seite.

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt