Als ich ein weiteres Mal zwischen karierten Kissen aufwachte, war ich sofort hellwach und riss meine rechte Hand vors Gesicht: noch immer funkelte mir der Ehering entgegen. Wütend riss ich ihn von meinem Finger und schleuderte ihn in den Raum hinein. Gestern Abend war ich zu müde gewesen, um mehr zu tun als erschöpft ins Bett zu fallen. Ich war auch sofort eingeschlafen. Aber jetzt...
Ich richtete mich auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich befand mich noch immer in diesem unseligen Jahr 1938. Und wenn auch Herr Manshagen eine überaus interessante Bereicherung dieser Zeitreise darstellte – ich wollte zurück!
Ich fragte mich, wie es meinen Kindern ging. Hatten sie versucht, mich telefonisch zu erreichen? Zum Glück verstanden sie sich gut mit ihrem Vater. Die Anrufe waren eigentlich immer eher von mir ausgegangen – was sich jetzt als Glücksfall erweisen konnte. Ich biss mir auf die Lippen. Würde Noah wie üblich seine Cornflakes mampfen, den Blick auf einen Comic gerichtet? Und würde Emily wie immer den Fußball durch die kleine Küche jonglieren, stets in Gefahr, dabei das Geschirr vom Tisch zu reißen?
Mit zusammengekniffenen Augen unterdrückte ich die aufsteigenden Tränen. Was, wenn ich für immer in dieser furchtbaren Zeit verhaftet blieb? Es schauderte mich unwillkürlich und ich verhakte meine Finger ineinander, bis es schmerzte. Es musste doch verflucht noch mal einen Ausweg geben! Doch mein Gehirn war so leer wie ein Klassenzimmer in den Sommerferien.
Langsam schob ich die Decke von meinen Füßen. Mit schmerzenden Muskeln stand ich auf, um dann mit gesenktem Blick im Zimmer auf und ab zu gehen. Irgendwann in naher Zukunft würde ein Krieg ausbrechen, so viel war klar. Dieses Jahr? Nächstes Jahr? Irgendwann im September, wenn ich mich richtig erinnerte... Hastig schob ich den Gedanken von mir. Denn zu wissen, was alles Schreckliches passieren würde, war noch viel schlimmer, als nur vage irgendein zukünftiges Unheil zu befürchten. Und ich konnte nichts dagegen tun, dass ich dann womöglich mittendrin steckte.
Abrupt blieb ich mitten im Raum stehen. Bedeutungsvolle Worte waren mir soeben durch den Kopf gegangen, aber nun entzogen sie sich jedem Versuch, sie zu greifen. Ich starrte auf die Fensterscheibe, durch das eine gedimmte Helligkeit in den Raum fiel. Heute sangen keine Vögel vor dem Fenster und auch die Sonne schien sich hinter Wolken verzogen zu haben.
Trotz der ungestörten Nacht stolperte ich leicht benommen zum Waschbecken hinüber. Was würde ich für eine Dusche geben! Und für warmes Wasser! Mit einem tiefen Atemzug spritzte ich mir das kalte Wasser ins Gesicht und griff auf einen bereitgelegten Waschlappen zurück. Dann hob ich auf einmal den Kopf. Spürte, wie sich Gänsehaut auf meinen nackten Armen ausbreitete. Zu wissen, was passieren würde, war nicht nur ein Nachteil...
Ich schluckte trocken und starrte in den Spiegel. Ein ängstliches, junges Gesicht starrte zurück. Das ist nicht dein Ernst, Lena, fuhr es mir durch den Kopf. Das wäre Wahnsinn, absoluter Wahnsinn. Ich löste die zerzausten Zöpfe und schüttelte energisch den Kopf, als wollte ich den verrückten Gedanken loswerden, der von mir Besitz ergriffen hatte. Riss eine neue Bluse und ein rotes Dirndl aus dem Schrank und kämpfte dann mit den Knöpfen am Rücken, die meine ganze Aufmerksamkeit forderten.
Als schließlich jeder Knopf die passende Öffnung gefunden hatte, war ich längst schweißgebadet. Dennoch wollte ich nichts lieber, als dieses Zimmer zu verlassen, dass plötzlich etwas Klaustrophobisches an sich hatte. Rasch bürstete ich die offenen Haare durch, riss die Tür auf und polterte trotz Muskelkaters die Treppe hinunter, bis ich schließlich am dem untersten Absatz zum Stehen kam. Mein Fuß schmerzte wieder und mein Atem ging keuchend, aber ich riss mich zusammen. Ich wollte Herrn Manshagen nicht erneut die Gelegenheit geben, meine offenkundige Emotionalität zu kommentieren.
Doch wie gestern Morgen war er auch heute noch nicht am Frühstückstisch. Erleichterung durchströmte mich. Es wurde Zeit, dass ich einen gefassteren Eindruck machte. Verdammt, ich war doch sonst nicht so leicht aus der Bahn zu werfen.
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Die Entscheidung ( ONC 2024 )
RandomDer Alltag hat Lena Köhler fest im Griff. Ihr Leben spielt sich zwischen Kindern, Job und gelegentlichen Treffen mit Freunden ab, vorhersehbar und durchgeplant. So wie sie es mag Dann kommt der Urlaub, der sie plötzlich nicht nur an einem völlig fal...