5 - Schwarz und Weiß

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Die Tränen flossen mir unaufhaltsam übers Gesicht, während ich nach Hause radelte. Ich war so verwirrt. Ich war überzeugt davon gewesen, dass Sam mich geküsst hatte und nicht andersrum. Warum nahm er es dann anders wahr und behauptete, dass ich Schuld daran wäre? Es tat so weh. 

Und was noch viel schlimmer war: Ein paar Minuten vor dem Kuss war ich doch noch davon überzeugt gewesen, dass ich Gott nicht wieder enttäuschen wollte und doch hatte ich es wieder getan. Dabei hatte der Kuss sich so schön angefühlt. Es hatte sich richtig angefühlt. Wie konnte das dann falsch sein?

Zu Hause angekommen, schloss ich die Tür auf und zog an der Garderobe meine Schuhe aus. Mama hatte gehört, dass ich wieder da war und kam in den Flur.

"Na Jona, hat es mit eurer Andacht geklappt?"

Ich versteckte mein Gesicht vor ihr. Ich wollte nicht, dass sie meine Tränen sah. Sie würde es nicht verstehen.

"Ja", sagte ich kurz angebunden, drückte mich mit gesenktem Kopf an ihr vorbei und ging schnell die Treppe nach oben in mein Zimmer.

"Was ist denn mit dem los?", hörte ich noch Saras Stimme, bevor ich die Tür schloss.

Was mit mir los war? Das hätte ich auch gerne gewusst. Ich setzte mich an die Bettkante, vergrub mein Gesicht in den Händen und begann wieder zu weinen. Mein Herz war zerrissen. Es fühlte sich an, als wäre eine Seite von mir in Dunkelheit gehüllt und die andere in Licht. Mit einem Bein stand ich in der Hölle, mit dem anderen im Himmel. Ich wollte Gott gehorchen, aber auch Sam wieder küssen. Doch beides ging wohl nicht. Ich musste mich entscheiden. Für eine der beiden Seiten. Doch welche war die Richtige?

Ein zaghaftes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Ich wollte mit niemandem reden, doch da öffnete sich schon die Tür.

"Jona, ist alles in Ordnung?"

Papa? Normalerweise war es doch Mamas Aufgabe, mit mir oder Sara zu reden. Papa versank lieber in seiner Arbeit, oder versteckte sich den Abend über hinter seiner Zeitung. Aber ehrlich gesagt war ich froh, dass nicht Mama ins Zimmer gekommen war.

Schnell wischte ich mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

"Darf ich?", fragte er und deutete auf den Platz neben mir, während er die Tür hinter sich zu drückte.

Ich nickte und er setzte sich zu mir aufs Bett.

"Du wirkst in letzter Zeit ein bisschen neben dir? Möchtest du über etwas reden?"

Wollte ich mit ihm über etwas reden? Wollte ich mich meinem Dad anvertrauen, der sonst irgendwie uninteressiert an meinem Leben war? Der weglief, wenn Mama mit ihm diskutieren wollte? Der nichts vom Glauben an Gott wissen wollte und meine Zerrissenheit doch gar nicht nachvollziehen konnte?

Ich seufzte. "Es ist verwirrend und schwer zu erklären."

"Versuch es, wenn du möchtest", antwortete er.

Erst jetzt schaute ich zu ihm. Sein Blick wirkte aufmunternd.

"Wie kann etwas, das sich richtig anfühlt, falsch sein?", stellte ich die Frage in den Raum.

Er runzelte die Stirn und dachte kurz nach. "Warum denkst du denn, dass es falsch ist?"

"Weil Gott sagt, dass es falsch ist."

Er nickte verstehend.

"Weißt du Jona, ich habe mir eine Zeit lang eine ähnliche Frage gestellt: Wie kann etwas, das sich so falsch anfühlt, richtig sein." Jetzt war ich an der Reihe ihn fragend anzuschauen.

"Wie meinst du das?"

"Du kannst dich vielleicht nicht mehr erinnern, aber ganz am Anfang, als Mama eure Gemeinde entdeckt hat, war ich auch noch mit dabei." Ich stutzte. Nein, daran konnte ich mich tatsächlich nicht mehr erinnern.

"Obwohl das meiste, was dort gepredigt wurde, immer in schöne Worte verpackt und mit irgendwelchen Bibelversen bewiesen wurde, gab es so viele Themen, die ich einfach nicht glauben und akzeptieren konnte. Während Mama die meisten Glaubenspunkte schnell und gerne annahm, habe ich ständig alles hinterfragt. 

Wir haben stundenlang diskutiert. Aber diese Streitgespräche führten ins Nichts, da wir nicht von der gleichen Basis überzeugt waren. Ich habe gemerkt, dass es bei ihr nichts bringt, mit ethischen, moralischen oder emotionalen Argumenten zu kommen. Für deine Mama zählt immer nur die Bibel und das, was sie, beziehungsweise eure Kirche daraus interpretiert hat." 

Er sah traurig aus und ich war immer noch verwundert. Ich hatte so oft für Papa gebetet, dass er doch endlich auch mit uns in die Kirche kommen würde. Dass Gott sein Herz berührt und er endlich überzeugt wird. Ich hatte nie verstanden, warum er Gott und unseren Glauben ablehnte.

"Ich bin dann relativ schnell wieder aus der Kirche ausgestiegen. Ich habe viel mit Mama diskutiert, weil es mir nicht recht war, dass sie euch dorthin mitnimmt. Es tut mir leid, Jona, aber irgendwann habe ich nachgegeben. Ich hatte keine Kraft mehr für diese andauernden Streitigkeiten. Außerdem schien es dir und Sara dort immer zu gefallen. Ich hoffe, das war kein Fehler?"

Wow, wenn ich vorher schon gedacht hätte, ich wäre überfordert mit allem, dann war ich es spätestens jetzt wirklich. Mit einem solchen Informationsfluss seitens meines Vaters hätte ich nicht gerechnet und das, was er mir gesagt hatte, irritierte mich. 

Es hörte sich logisch an und ließ mich an den Dingen zweifeln, an denen ich bisher immer festgehalten hatte. Das Problem war, mein komplettes Leben, meine Denkmuster, alles worauf ich bisher vertraut und was ich geglaubt hatte, gründete auf meinem Glauben an Gott. 

Ich hatte es nie gewagt, etwas daran zu hinterfragen, denn wenn ich an dieser Basis auch nur im Geringsten rütteln würde, könnte das alles zum Einstürzen bringen.

"Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll", antwortete ich wahrheitsgemäß.

"Du musst nichts dazu sagen, Jona. Ich möchte nur, dass du weißt, dass du die Aussagen aus der Kirche hinterfragen darfst. Nur, weil diese Kirche manche Dinge so festgelegt hat, muss das nicht notwendigerweise der Wahrheit entsprechen. Andere christliche Gemeinden haben vielleicht eine ganz andere Meinung zu manchen Themen und dennoch leben sie in tiefer Verbundenheit mit Gott."

"Glaubst du denn an Gott, Papa?"

"Ja, das tue ich, aber auf eine andere Art als Mama. Ich glaube, dass es dort jemanden gibt, der uns liebt, der uns gewollt hat und der uns erschaffen hat. Aber ich glaube nicht, dass Gott jemand ist, der uns in irgendwelche Formen pressen will, der nur eine richtige Vorstellung vom Leben hat, der uns seine Denkmuster aufzwingen will und der selbst nur schwarz und weiß kennt. 

Ich glaube, dieser Gott möchte, dass wir unseren Kopf selbst anstrengen, uns eine eigene Meinung bilden und dadurch stärker werden und daran wachsen."

Ich nickte. Das, was Papa sagte, ergab Sinn, aber es nagte auch heftig an meinen bisherigen Überzeugungen. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Ich wusste gerade nicht, ob ich bereit dazu war, alles anzuzweifeln. Ich hatte Angst vor dem, was danach kommen würde. Was, wenn es mir danach viel schlechter ging?

"Danke, Papa. Ich denke darüber nach."

"Mach das, Jona. Komm zu mir, falls du nochmal darüber reden willst, oder falls du ein bestimmtes Thema hast, das dich beschäftigt, dann finden wir gemeinsam eine Lösung, okay?"

Ich nickte.


Zitternd saß ich in meinem Bett, den Laptop auf meinem Schoß. In der Suchzeile stand ein Satz, den ich seit sicher zehn Minuten anstarrte. Ich traute mich nicht, die Enter-Taste zu drücken. Es fühlte sich an, als würde ich Gott und meinen eigenen Glauben dadurch hintergehen. 

Wenn ich jetzt meinen Glauben hinterfragte, würde es vielleicht kein Zurück mehr geben. Ich atmete tief ein und las mir meine Frage nochmal durch: Liebt Gott mich, obwohl ich bi bin? Und dann drückte ich die Taste. Die Suchmaschine spuckte sofort hunderte Treffer aus.


Masturbate, Pray, Repeat! [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt