6 - Befreit

271 16 72
                                    

“Jona, steh endlich auf, wir wollen bald los!”, hörte ich Saras nervige Stimme vor meiner Zimmertür.

Gequält setzte ich mich in meinem Bett auf und rieb mir die müden Augen. Ich war mir unsicher, ob ich mit in den Gottesdienst gehen wollte.

Nach dem Gespräch mit meinem Dad hatte ich die ganze Nacht recherchiert. Und auch gestern war ich den kompletten Samstag nicht aus dem Zimmer gekommen, sondern hatte lieber das Internet nach der Wahrheit durchforstet. 

Jetzt fühlte ich mich elendig. In mir tobte ein Kampf. Ich hatte so viele Texte und Videos von Christen gesehen, die zum Teil so unterschiedliche Meinungen hatten, dass ich inzwischen komplett verwirrt war und gar nicht mehr wusste, was ich glauben sollte.

Es war einfacher gewesen, als ich einfach nur die Aussagen meiner Kirche als Wahrheit glauben konnte. Am liebsten hätte ich alles, was ich gelesen und gehört hatte, wieder vergessen und einfach wieder nur das geglaubt, von dem ich bisher überzeugt gewesen war. 

Aber sobald ich mich gedanklich darauf einließ, stand ich wieder vor meinem ursprünglichen Problem: Meine Kirche würde niemals akzeptieren, dass ich am gleichen Geschlecht interessiert war. 

“Jona! Jetzt mach endlich, damit wir nicht zu spät kommen!”

Ich seufzte und stand auf.

Sam ließ sich absolut nichts anmerken. Als hätte es den Kuss zwischen uns niemals gegeben, behandelte er mich genauso freundlich wie immer. Wobei, nicht ganz so wie immer.

Er legte seine Hand nicht auf meine Schulter, wie er es sonst immer tat. Meinen Blicken hielt er nicht stand und beim Abschlussgebet unseres Gesprächskreises fragte er mich diesmal nicht, ob ich mit ihm und Esther beten wollen würde. 

Und obwohl er die Sache zwischen uns wohl vergessen wollte, konnte ich Dummkopf immer noch nicht anders, als ihn anzuhimmeln.

Ich musste ihn nur anschauen und bekam das Bedürfnis ihn zu berühren. Wenn er sprach, hatte ich Lust, seine Lippen zu küssen. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, ihn nicht ständig anzustarren.

Das stellte sich allerdings als ziemlich schwierig heraus, da er während des Gesprächskreises wie immer im Mittelpunkt stand und im zweiten Teil des Gottesdienstes war er vorne mit auf der Bühne.

Er begleitete die Gemeinde bei den Liedern am Flügel und vor der Predigt seines Vaters bat dieser seinen Sohn, das Anfangsgebet zu sprechen. Außerdem versagte mal wieder die Technik – mitten in der Predigt – und Sam stand da, die Fernbedienung in die Höhe gestreckt und hatte diesen verbissenen Blick, wie immer, wenn er sich konzentrierte und ich konnte nichts anderes tun, als ihn dabei anzuschmachten.

Als der Gottesdienst vorüber war, stand Sam an der großen Gemeindetür und verabschiedete sich einzeln von jedem Gemeindemitglied. 

“Tschüss, Jona. Bis Mittwoch”, meinte er lächelnd und reichte mir förmlich, wie er es bei allen anderen auch tat, die Hand. Dabei war ich mit ziemlicher Sicherheit der einzige, bei dem diese belanglose Geste ein aufregendes Kribbeln auf der Haut auslöste.

Oh Mann, wenn er wüsste, was er allein durch diese Berührung mit mir anstellte. Zu Hause angekommen, verzichtete ich auf das Mittagessen und verschwand direkt wieder in meinem Zimmer.

Ich zog meine unbequeme Hose aus, legte mich ins Bett, schloss meine Augen und schob meine Hand in meine Boxershorts. Es war zwar ein bisschen lächerlich, aber der Gedanke daran, dass ich vorhin seine Hand geschüttelt hatte und jetzt mit derselben Hand etwas anderes schütteln würde, machte mich ziemlich an. 

Ich grinste, als ich mich beim Sex mit ihm vorstellte. Dabei fand die Vorstellung nicht wie sonst im Bett statt. Irgendwie gefiel mir der versaute Gedanke, ihn ihm Gottesdienstsaal zu vögeln. 

Ich stellte mir vor, wie wir dort allein waren und wie er mir ganz romantisch etwas auf dem Flügel vorspielte. Ich setzte mich neben ihn und begann ihn zu küssen. Seinen Hals und dann seine Lippen.

Er würde sich nicht mehr auf das Klavier konzentrieren können, sondern nun seine ganze Aufmerksamkeit mir schenken. Währenddessen würde ich ihm sein Hemd ausziehen und meine Finger über seine nackte Haut gleiten lassen.

Ich stellte mir vor, wie ich ihm auch noch den Rest auszog, mich vor ihn kniete und ihn in den Mund nahm.

Mist, ich hätte jede Sekunde kommen können, aber ich wollte die Vorstellung noch weiterspielen und die Zeit mit ihm, auch wenn sie nur in meinem Kopf stattfand, noch etwas hinauszögern. 

"Reiß dich zusammen”, flüsterte ich mir deshalb selbst zu und dachte mich wieder in die unerreichbare Fantasie.

Ich stellte mir vor, wie ich aus meiner knienden Position aufstand, ihn am Hintern hochhob und ihn auf die Klaviertasten setzte, was dem Instrument ein paar unschöne Töne entlocken würde.

Ich würde seine Beine nach oben drücken, sie mir über die Schultern legen und dann würde ich ihn vögeln. Auf dem Klavier. Im Gemeindesaal. Wieder musste ich grinsen.

Schnell zog ich meine Shorts ein Stück runter, griff nach der Taschentuchbox auf meinem Nachttisch und zog ein paar heraus. Dann hielt ich es keine Sekunde mehr aus, stellte mir nochmal Sam vor, wie er unter mir ächzte und kam.

Befriedigt streckte ich mich auf dem Rücken liegend im Bett aus und wartete auf das schlechte Gewissen. Doch es stellte sich nicht wie üblich ein. 

Dann nahm ich mein Smartphone in die Hand und suchte nach einem YouTube-Kanal, den ich am Abend zuvor entdeckt hatte, aber zu müde war, um mich genauer damit zu beschäftigen.

Dort sprach eine lesbische evangelische Pfarrerin darüber, dass es keine homophoben Bibelverse in der Bibel gab. Die einzigen fünf Verse in der ganzen Bibel, die oft von homophoben Christen, als Argument genutzt wurden, um gegen queere Menschen zu schießen, konnten in Anbetracht der Zeit und der damaligen Umstände auch ganz anders ausgelegt werden.

Und da machte es plötzlich klick bei mir. Es gab keinen Bibelvers und somit auch keinen einzigen Satz in Gottes Wort, der etwas gegen gleichgeschlechtliche Liebe sagte? Das wiederum bedeutete, dass Gott nichts dagegen haben würde, wenn ich mich in einen Typen verliebe.

Erleichtert atmete ich aus. So befreit hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

Jetzt musste ich das nur noch Sam klarmachen.

Masturbate, Pray, Repeat! [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt