143

76 9 5
                                    

Wincent

Ich wachte vor Anna auf und ging erst einmal duschen. Dann machte ich einen Kaffee und setzte mich an den Schreibtisch. So konnte der Tag doch anfangen. Während ich darauf wartete, dass meine Freundin wach wurde, beantwortete ich noch einige Mails. Dann konnte niemand sagen, ich hätte nicht gearbeitet und außerdem waren die eh schon einige Tage unbeantwortet.
Als ich hinter mir Schritte hörte, drehte ich mich um und sah Anna noch etwas verschlafen im Türrahmen stehen.
„Guten Morgen", sagte ich und schloss meinen Laptop.
„Morgen", murmelte sie. „Wieso bist du schon auf?"
„Konnte nicht mehr schlafen und wollte dich nicht wecken. Deshalb hab ich ein wenig gearbeitet und jetzt hab ich noch zwei Stunden nur für dich."
„Und was machen wir mit den zwei Stunden?"
„Also ich hätte da einige Ideen", grinste ich.
„Vergiss es. Ich hab Hunger. Und Fritz will auch raus", widersprach Anna direkt.
„Aber das dauert doch keine zwei Stunden."
„Woher willst du denn das wissen? Du weißt doch gar nicht, was ich essen will."
„Was willst du denn haben?", hakte ich nach.
Anna dachte kurz nach. „Brötchen wären toll... Und Schoko-Croissants...", sagte sie schließlich.
„Okay. Bekommst du", erwiderte ich lächelnd. „Soll ich Fritz mitnehmen? Wir können ja nach dem Essen nochmal einen richtigen Spaziergang mit ihm machen."
„Klingt gut." Anna gähnte.
„Na, noch müde?"
„Es geht schon", wank sie ab. „Geh du mir mal lieber Frühstück besorgen."
Grinsend ging ich in den Flur und zog meine Schuhe an. Ich freute mich, wieder hier bei Anna und Fritz zu sein. Vor allem war ich jedoch davon begeistert, wie gut Anna in den letzten Wochen gegessen hatte. Von Martha war keine Spur mehr zu merken und das beruhigte mich. Vielleicht war Anna dieses Mal gut davongekommen. Wünschen würde ich es mir auf jeden Fall.
„Fritz! Bäckerrunde!", rief ich und nahm seine Leine vom Haken.
Schwanzwedelnd kam Fritz zu mir und wartete leicht ungeduldig, bis ich ihm erlaubte, wieder aufzustehen. Gemeinsam verließen wir die Wohnung und machten ein Wettrennen die Treppen nach unten. Auf der ersten Etage kam uns dann plötzlich jemand entgegen, aber wir konnten gerade noch ausweichen. Ich stoppte und entschuldigte mich bei dem älteren Herrn.
„Wohin denn so stürmisch auf'm frühen Morgen?", erkundigte er sich höflich, nachdem er mir versichert hatte, dass alles okay war.
„Sein Frauchen hat Hunger", erklärte ich. „Wir müssen also schnell Frühstück besorgen."
„Das ist in der Tat wichtig. Dann halte ich Sie mal nicht länger auf. Sonst gibt es am Ende noch Ärger Zuhause." Er grinste und ich lächelte automatisch zurück.
„Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Auf Wiedersehen."
„Auf Wiedersehen", erwiderte der Herr, hob die Hand zum Gruß und stieg langsam weiter die Treppen nach oben.
Kurz sah ich ihm noch nach und dann hatte ich mich entschieden. Ich pfiff nach Fritz und lief wieder ein Stockwerk nach oben. Der Herr hatte gerade die letzte Stufe erreicht, als ich ihn noch einmal ansprach.
„Sorry, aber kann man Ihnen etwas Gutes tun? Kann ich Ihnen etwas mitbringen?"
Überrascht sah mich der ältere Herr an und schien zu überlegen.

Annalena

War mein Zeitgefühl kaputt oder brauchte Wincent heute wirklich länger? Wo blieben die beiden denn? Da ich wirklich Hunger hatte, ein Gefühl, das ich aus der Zeit mit Martha nicht kannte, ging ich in die Küche. Im Kühlschrank lag noch ein Apfel, den ich mir klein schnitt. Dann setzte ich mich mit dem Teller auf das Sofa und wartete. Nebenbei ließ ich Spotify meine Lieblingssongs spielen. Ich nahm gerade aus dem Wohnzimmerschrank eine Packung Gummibärchen, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete die Packung, während ich mich zum Türöffner bewegte.
„Ja?", fragte ich.
„Ich bin es", sagte Wincent auf der anderen Seite.
„Komm doch hoch."
„Schlüssel vergessen", gab er zu und ich musste lachen.
Ich drückte den Türöffner. „Bis gleich."
„Danke, Schatz."
Während ich darauf wartete, dass Wincent und Fritz nach oben kamen, räumte ich den Teller in die Küche und ließ die leere Gummibärchentüte verschwinden.
„Sagt mal, werdet ihr alt?", begrüßte ich die beiden Männer, als sie endlich oben waren.
„Ich bin alt", konterte Wincent direkt.
„Und ich der Kaiser von China."
„Verrätst du mir dein Geheimnis? Ich meine, dann bist du ja mehr als doppelt so alt wie ich und siehst dennoch aus, wie das blühende Leben."
Spätestens jetzt konnte ich nicht mehr Ernst bleiben und fing an zu lachen. Genau solche Momente liebte ich. Die sinnlosesten Gespräche waren immer noch die besten.
„Aber wo wir beim Thema Alter sind", sagte Wincent, als ich mich wieder beruhigt hatte. „Auf dem Weg zum Bäcker sind wir im Treppenhaus einem Nachbarn begegnet."
„Und?", hakte ich nach, während wir den Tisch deckten.
„Ich weiß nicht, irgendwie wirkte er ein wenig einsam. Ich hatte ihn auch gefragt, ob wir ihm etwas mitbringen sollen, aber das hat er abgelehnt."
„Lass mich raten, du hast dennoch mehr gekauft", erwiderte ich.
„Vielleicht", gab er zu. „Wenn du magst, könnten wir ihm das nach dem Frühstück bringen."
„Gerne. Aber erst brauch ich etwas zu essen."
„Und ich Kaffee", fügte er hinzu. „Willst du auch?"
Ich zögerte. Zum ersten Mal bei dieser Frage. „Nein, danke. Aber einen Tee würde ich gerne nehmen."
Wincent öffnete die Schränke, während ich mich schon an den Tisch setzte. Wincent brühte meinen Lieblingstee auf und ließ dann seinen Kaffee in die Tasse laufen. Als er sich damit an den Tisch setzte, wurde mir augenblicklich schlecht. Na toll, das ging ja gut los.
„Anna? Alles in Ordnung?", fragte Wincent besorgt.
„Ja", brachte ich gerade so heraus. „Bin gleich wieder da."
Ich stand auf und ging ins Badezimmer. Dort atmete ich mehrfach tief durch. Jetzt, wo der Kaffee-Geruch nicht mehr so präsent war, ging es mir auch schon wieder besser.
„Anna?" Wincent klopfte an die Badtür.
Ich atmete noch einmal durch und dann öffnete ich die Tür.
„Ist wirklich alles in Ordnung?", fragte er.
„Ja. Geht wieder", antwortete ich. „Lass uns frühstücken."
„Sicher?" Er wirkte nicht überzeugt.
„Ja. Ganz sicher", bestätigte ich und wir gingen in die Küche zurück.
Zum Glück trank Wincent seinen Kaffee immer recht schnell, sodass der Geruch aushaltbar war. Nach dem Essen räumten wir kurz auf und dann gingen wir nochmal eine richtige Gassirunde mit Fritz im Park drehen. Wieder zurück bekam Fritz sein Frühstück und Wincent wurde immer hibbeliger.
„Ist ja gut, wir gehen runter", sagte ich.
„Fritz, komm. Wir gehen den Mann besuchen." Ich hörte die Vorfreude in Wincents Stimme.

Bin angekommen bei d(m)irWo Geschichten leben. Entdecke jetzt