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Annalena

Wir verließen die Wohnung und ich schloss ab. Im Treppenhaus hatte ich wirklich Mühe, mit Wincent Schritt zu halten. Irgendwas hatte er an dem Mann gefressen, sodass er es kaum abwarten konnte, dorthin zu kommen. Ich verstand es nicht, aber es war halt Wincent. Vor der Wohnung angekommen blieb mein Freund dann endlich stehen und wir warteten.
„Oh, hallo", kam es überrascht von einer unbekannten männlichen Stimme.
Sie klang zwar freundlich, aber ich war bei Männern dennoch immer ein wenig skeptisch. Egal, wie Wincent ihn einschätzte und obwohl Fritz auch entspannt war.
„Entschuldigen Sie die Störung, aber ich konnte nicht anders, als Ihnen doch etwas mitzubringen", sagte Wincent.
„Das wär wirklich nicht nötig gewesen", sprach der Mann und klang erfreut, aber auch ein wenig überfordert.
„Ich hab es gern getan", erwiderte mein Freund. „Ach, darf ich vorstellen? Anna, meine Freundin und Ihre Nachbarin von weiter oben."
„Hallo", sagte ich etwas schüchtern.
Wincent schien das zu spüren, denn er legte mir eine Hand auf den Rücken und streichelte mich ein wenig. Es war alles okay. Wincent war da. Und Fritz. Entspann dich!, sprach ich innerlich zu mir selbst.
„Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin übrigens Heinz", stellte der Mann sich vor. „Wollt ihr noch einen Moment hineinkommen?"
Wincent entschied, dass wir es tun wollten und so folgte ich ihm in die Wohnung. Er nahm meine Hand und führte mich wahrscheinlich ins Wohnzimmer. Im nächsten Moment fand ich mich nämlich auf einem Sofa wieder. Heinz schien wirklich nett zu sein, denn die beiden Männer verfielen augenblicklich in ein Gespräch über Autos und Motorräder. Da konnte ich nun absolut nicht mitreden, aber das merkten die Männer schnell. Also wechselten sie das Thema und während Heinz das mitgebrachte Essen genoss, wofür er sich noch hundert Mal bedankte, redeten wir über alles Mögliche. Ich entspannte mich zunehmend und fühlte mich auf jeden Fall schon wohler als am Anfang. Mit Wincent konnte ich anscheinend lernen, bei fremden Männern nicht direkt in Panik zu verfallen.
„Möchte jemand von euch Kaffee oder Tee?", fragte Heinz nach einer Weile.
„Ich würde einen Kaffee nehmen", sagte Wincent und ich bekam ein ungutes Gefühl.
„Anna?", wandte sich Heinz an mich.
„Ich nehm gerne einen Kräutertee", antwortete ich.
Ich hörte, wie Heinz aufstand und den Raum verließ.
„Schatz? Alles in Ordnung? Du wirkst so angespannt." Wincent klang besorgt.
„Alles gut", wank ich ab.
„Sicher? Ist dir wieder schlecht?"
„Gerade geht es. Wirklich."
Wincents Handy unterbrach uns, bevor er weiter nachhaken konnte. Ich war zum ersten Mal froh darüber, dass wir gestört wurden. Erstens wollte ich das nicht in der Wohnung meines Nachbarn klären und zweitens war ich mir immer noch nicht ganz sicher, ob und wie ich es Wincent sagen sollte. Mein Freund nahm den Anruf entgegen und verließ das Zimmer, sodass ich nicht wusste, wer etwas von ihm wollte.
„Huch, wo ist denn Wincent hin?", fragte Heinz, der gerade wieder das Wohnzimmer betrat.
„Kurz telefonieren", erklärte ich.
„Wollen wir solange etwas spielen? Die Getränke brauchen noch einen Moment."
„Woran hast du gedacht?", hakte ich nach.
„Ich hab alles Mögliche da. Brettspiele, Kartenspiele..."
„Wenn du nichts dagegen hast, geh ich kurz hoch und hole mein Memorie", schlug ich vor.
„Ich hätte auch eins hier", erwiderte er direkt.
Okay, er hatte noch nicht bemerkt, dass ich blind war.
„Ich fürchte aber, dass ich damit nicht spielen kann", gab ich zu.
„Hast du deins etwa gezinkt oder sind das Glückskarten?"
„Nicht wirklich. Wobei vielleicht bringen sie ein bisschen Glück", sagte ich. „Aber eigentlich geht es darum, dass meine Karten mit Blindenschrift versehen sind."
Kurz herrschte Stille im Raum. Fritz, der die ganze Zeit ruhig auf meinen Füßen gelegen hatte, setzte sich auf und legte den Kopf auf meinen Schoß.
„Dann hol gerne dein Spiel. Ich kümmere mich solange um die Getränke", sagte Heinz schließlich und damit schien das Thema erledigt zu sein.
Ich stand vom Sofa auf und ging in Richtung Flur. Oder besser gesagt dorthin, wo ich den Flur vermutete. Wieso hatte ich mir vorhin nicht den Weg gemerkt?

Wincent

„Ja?"
„Hey Wince. Alles klar? Bereit für die Abfahrt in 10 Minuten?", fragte meine beste Freundin.
Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Mist! Ich hatte komplett die Zeit vergessen.
„Äh, ja. Alles gut soweit, kein Problem", antwortete ich schnell.
„Ehrlich?", hakte Amelie natürlich sofort nach.
„Natürlich."
„Du hast die Zeit vergessen, stimmt's?" Ich hörte das Grinsen durchs Telefon.
„Ne, wirklich nicht. Ich bin soweit. In 10 Minuten vor der Haustür."
Amelie schien nicht wirklich überzeugt zu sein. „Na gut, wenn du meinst. Dann bis gleich."
„Bis gleich", erwiderte ich.
Sobald das Telefonat beendet war, atmete ich tief durch. Meine beste Freundin kannte mich einfach viel zu gut. Deshalb auch der Kontrollanruf. Dankbarerweise immer mit ein wenig Vorlauf. So sehr ich mich auf einen tollen Vormittag mit meiner besten Freundin freute, bei dem es ausnahmsweise mal nicht um die Arbeit ging, es fiel mir irgendwie schwer, Anna und Heinz alleine zu lassen. Ich mochte den älteren Herrn und hier fühlte ich mich ein bisschen wie Zuhause bei meinem Opa.
Als ich gerade wieder ins Wohnzimmer gehen wollte, kam mir Anna entgegen.
„Hey, wo willst du denn hin?", fragte ich.
„Ich geh mein Memorie holen", antwortete sie und ich war komplett verwirrt.
„Wozu?"
„Zum Spielen natürlich. Anschauen wird ein wenig schwierig und essbar ist es auch nicht, soweit ich weiß."
Natürlich musste sie jeden dummen Moment von mir ausnutzen.
„Sehr witzig", erwiderte ich. „Und du willst wirklich spielen?"
„Warum denn nicht?"
„Na ja, ich muss in zehn Minuten los", sagte ich.
„Ja und? Ich spiel auch gerne gegen Heinz. Du verlierst ja eh immer."
„Hey! Das ist unfair! Du bist einfach zu gut", verteidigte ich mich. „Und du hast mehr Übung."
„Dafür kannst du die Karten sehen", konterte Anna direkt.
„Aber ich bin alt."
„Nicht das Thema schon wieder", seufzte Anna, aber ich sah, dass sie ein Lächeln zu verbergen versuchte.
„Okay, Vorschlag. Ich geh hoch und hol das Memorie und die Buchstaben und du setzt dich wieder auf die Couch und schonst dich, okay?"
„Wince, mir geht es gut", widersprach sie direkt. „Aber du kannst natürlich gerne die Sachen holen gehen."
„Anna, ich mach mir einfach nur Sorgen. Und wenn du dich übergeben musst, ist nicht alles gut. Also setz dich und warte."
Sie nickte und ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor ich sie wieder Richtung Wohnzimmer drehte. Ich tastete nach dem Wohnungsschlüssel in meiner Tasche und machte mich auf den Weg nach oben. In der Wohnung angekommen, ging ich direkt ins Wohnzimmer und blieb dann im Türrahmen stehen. Wo hatte ich die Spiele hingetan?

Bin angekommen bei d(m)irWo Geschichten leben. Entdecke jetzt