Jackson
Gelangweilt zeichnete ich mit meinem Kugelschreiber die Linien auf dem Karopapier nach. Von Biologie verstand ich sowieso nichts. Mein Gehirn war mit Zahlen kompatibel, Mathe, Physik und Chemie, sowas war meine Stärke. Aber doch nicht Biologie! Ich konnte Bio praktisch durchführen, hatte aber keine Ahnung von dem Theoretischen. Das war, als würde man ewig das Kamasutra lesen und es nie selbst ausprobieren. Lame.
Erneut sah ich auf die Uhr, welche 10:05 Uhr anzeigte. Alter, noch so viel Zeit zu überbrücken....
Es klopfte leise an der Klassenzimmertür, welche kurz darauf von außen geöffnet wurde. Mark betrat den Raum, gab beim Lehrer eine Bescheinigung ab, die aussah wie ein ärztliches Attest, und setzte sich daraufhin auf seinen Platz. Ich musterte meinen Sitznachbarn von oben bis unten. Er sah nicht krank oder verletzt aus, höchstens etwas niedergeschlagen.
Ich versuchte, in den ersten 30 Sekunden meine Neugierde zu zügeln, verlor diesen Kampf jedoch kläglich.
„Warst du beim Arzt?", fragte ich also direkt nach. Der Amerikaner nickte, eine ausführlichere Antwort erhielt ich nicht.
Selbst meine unempathische Wenigkeit verstand, dass der Jüngere nicht weiter darüber reden wollte, und dennoch brannte es mir unter den Fingernägeln, ihn weiter mit Fragen zu nerven.
Im folgenden Unterricht hatten wir Deutsch. Unsere Lehrerin, die wir beim Vornamen ansprechen durften, betrat den Klassenraum und stellte uns das neue Thema vor, welches hieß: „Zur Genealogie eines Kommunikationscodes der Massenmedien".
Fragend sah ich durch die Runde und auch die anderen Schüler verstanden nur wenig von dem, was Katy uns damit sagen wollte.
„Das ist das Thema unserer Projektarbeit. Die Arbeit macht 50% eurer Gesamtnote aus und ich kann euch nur ans Herz legen, sie mit Sorgfalt zu bearbeiten."
„Wie soll ich etwas erarbeiten, von dem ich nur Bahnhof verstehe?", fragte Yugyeom höchst unsicher.
„Ich würde, wenn ich dürfte, mit dir um 100€ wetten, dass du dich hervorragend mit der oberflächlichen Seite des Themas auskennst", grinste die junge Frau breit und schaltete das Aktiveboard an. Es erschien ein Bild von einem Logo, welches jeder von uns kannte.
Ich sprach es laut aus: „Instagram?"
„Korrekt, Jackson."
Die Fragezeichen auf den Köpfen von den Schülern wuchsen weiter. So begann Katy zu erklären: „Schon Friedrich Tenbruck sagte, dass Jugendlichkeit zum zentralen Leitwert der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts avanciert. Also die Phase im Leben, die durch den Zeitraum zwischen Kindheit und Erwachsenenalter charakterisiert wird. Es geht letztlich um die Illustration von Eigenschaften, mit denen angehende Erwachsenen identifiziert werden wollen: zum Beispiel Authentizität und Coolness. Wir werden uns nun ansehen, wie sich die Jugend im 21. Jahrhundert präsentiert und was dahinter steht. Dafür habe ich mir die Plattform Instagram ausgesucht, denn wer von euch ist jetzt noch auf Facebook aktiv?"
Allgemeines Gemurmel begann in dem Raum und jeder schien dem Thema seine Zustimmung zu geben. Es erschien ja sehr vielversprechend.
„Eure Aufgabe ist es jetzt, paarweise jeweils zwei Instagramprofile zu erstellen. Das erste vor eurer Recherche zu dem Thema, so wie ihr euren Projektpartner seht und wie er sich uns gegenüber im Klassenverband gibt. Dafür könnt ihr Fotos von euch machen und Beschreibungen in euren eigenen Worten nutzen. Danach werden wir hier im Unterricht einiges erarbeiten und ihr müsst euch selbst neues Wissen aneignen. Im zweiten Schritt der Projektarbeit werdet ihr ein weiteres Profil mit den neuen Informationen ausarbeiten und das dem alten Profil gegenüberstellen. Neben einer Präsentation der Profile müsst ihr das alles noch in einer Hausarbeit verschriftlichen. Da es eine Partnerarbeit ist, dürft ihr auch eine gemeinsame Hausarbeit abgeben."
Erneut brach die Klasse in aufgeregtes Gemurmel aus. Unsere Lehrerin unterbrach die Gespräche und sagte: „Damit keine großen Diskussionen entstehen, arbeitet ihr einfach mit eurem Sitznachbarn zusammen. Mit 20 Schülern wird es perfekt aufgehen."
Das Motzen der Anderen überhörte ich einfach, denn mir passte es ganz gut, mit Mark zusammen arbeiten zu müssen. Dieser drehte sich zu mir und meinte: „Ich hoffe, du nimmst das genau so ernst wie ich, denn ich brauche mindestens 13 Punkte."
„So hohe Erwartungen an meine Note habe ich jetzt nicht, aber ich bin arbeitswillig", grinste ich ihn an.
Daraufhin entließ uns Katy auch schon in unsere Projektarbeit. Zuvor präsentierte sie uns noch den zeitlichen Rahmen, wann wir Freiarbeit hatten und wann Frontalunterricht.
Schnell kamen wir zu dem Schluss, den ersten Schritt der Arbeit möglichst schnell anzufertigen, um genug Zeit für die Recherche einzuplanen.
„Wollen wir jetzt mit der Informationssammlung beginnen und den Rest in den nächsten Tagen nach Schulschluss weiter ausarbeiten?", schlug ich vor.
„Ist gut, aber nicht bei mir", nickte mein Projektpartner und suchte seine Sachen zusammen.
„Wieso?"
„Meine Familie sieht es nicht gerne, wenn ich fremde Leute mit nach Hause bringe", seufzte der Jüngere sichtlich nervös. Ich hinterfragte das einfach mal nicht, denn es schien ihm sehr peinlich, aber auch ernst zu sein.
„Gut, dann wo anders. Bei mir zuhause ist es momentan aber auch schwer, weil meine Eltern beide in den nächsten Tagen Nachtschicht haben, und wir werden ziemlichen Stress bekommen, wenn wir sie wecken würden."
Endlich stellte Mark eine halbwegs interessierte Frage und wirkte das erste Mal an diesem Tag nicht mehr so distanziert: „Was machen deine Eltern denn?"
„Sind beides Polizisten", antwortete ich stolz.
„Dann sollten wir sie definitiv nicht stören", schmunzelte mein Gegenüber.
Daraufhin suchten wir uns einen ruhigen Platz draußen auf dem Hof, in der Sonne. Hier wollten wir für die nächsten 60 Minuten arbeiten.
„Wir können ja morgen in ein Café gehen?", schlug ich vor, während ich mich im Schneidersitz auf den Rasen setzte und meine Sachen aus meinem Rucksack raussuchte.
„Gute Idee."
„Wo wohnst du, dann können wir dort in der Nähe hin?", wollte ich wissen.
„Was denkst du denn, wo man als reicher Mensch in Hamburg am besten wohnt?", murmelte Mark.
Ich lachte auf: „Na, auf dem Kiez sicherlich nicht."
„Gut geschlussfolgert, Holmes."
„Dann wohl ein Café in Blankenese", meinte ich.
„Mit Blick auf die Elbe", zwinkerte Mark.
„Okay. Dann erzähl mir mal etwas über dich, für dein Instagram."
„Es geht ja erstmal nur um das Oberflächliche. Dazu brauchst du nur wenige Infos über mich", antwortete mein Gegenüber schon wieder viel zu verschlossen. Er begann, auf seinem Block etwas zu schreiben, und reichte mir schließlich seinen Zettel.Name: Mark Tuan
Geburtsname: Tuan Yi Eun
Geburtsdatum: 04.09
Größe: 175 cm
Nationalität: Amerikanisch/ Deutsch„Oh, Mark", seufzte ich. Der Angesprochene musterte mich fragend. „Wir kennen uns bereits zu gut für das hier", versuchte ich, ihn zum Reden zu bringen, grinste dabei anzüglich und blickte an seinem Körper hinab, dabei dachte ich an die Party. Das ging leider völlig nach hinten los.
„Junge, was ist denn nicht richtig mit dir?", begann sich Mark zu beschweren. „Machst du dich über mich lustig?!"
„Bitte?"
„Darüber, dass ich schwul bin?"
Huch, wie kam er auf sowas? „Hä?"
„Bilde dir nichts darauf ein, was Freitagnacht passiert ist! Ich war das erste Mal in meinem Leben richtig betrunken und du hast so eine Reaktion doch provoziert, mit deinem fast nackten Herumtanzen! Du wusstest, dass ich schwul bin. Hör auf, mich zu verarschen und mich ins Lächerliche zu ziehen!"
Komplett überrumpelt mit diesen Anschuldigungen sah ich ihn erst einmal nur extrem dumm an.
„Ach, vergiss es", verdrehte mein Gegenüber die Augen, sammelte seine Sachen ein und wollte gehen.
Okay, so konnte ich diese Situation nicht enden lassen. Dann würde ich ihn jetzt halt aus dem Konzept bringen.
„Warte", hielt ich den Jüngeren auf, in dem ich seinen Arm festhielt und ihn zurück ins Gras zog. Genervt wurde ich abermals von ihm gemustert. Doch dieser Blick änderte sich schlagartig, als ich begann zu reden: „Ich habe mich nicht über dich lustig gemacht, ich bewundere dich für deine Offenheit. Aber bilde dir nicht ein, ich hätte das für dich abgezogen. Solche Aktionen bringe ich öfter, wenn ich getrunken habe. Ich habe lediglich deine Unsicherheit ein wenig gereizt. Dass es so ein riesen Ding für dich zu sein scheint, zeigt mir, wie wenig Erfahrung du zu haben scheinst, und dass du doch nicht so selbstbewusst bist."
Mark begann, auf seiner Unterlippe zu kauen und gab sich mit meiner Aussage nicht zufrieden: „Wäre ich eine Frau, würde ich dir das vielleicht abkaufen."
„Was hat das damit zu tun?"
„Na, deine Absicht. Wieso packst du mir in den Schritt, wenn du offensichtlich hetero bist?! Von wegen 'ein wenig ausreizen'. Sowas ist Schikane!", schnauzte mich der Jüngere an. Wow, und ich dachte, ich sei oberflächlich! Nur weil keine Gerüchte über mich kursierten, bedeutete das ja nicht automatisch, dass ich hetero war. Wie viele nicht geoutete junge Männer und Frauen es wohl hier an der Schule geben mochte, die sich durch unsere Gesellschaft unterdrückt und verloren fühlten?
Mein erster Impuls war, ihn vom Gegenteil zu überzeugen und ihn einfach zu küssen. Allerdings konnte ich den Amerikaner kaum einschätzen und das könnte somit richtig eskalieren. Also beschränkte ich mich nur auf das Verbale: „Alter, Mark, wie blind bist du eigentlich?"
Um mit offenen Karten zu spielen, aber auch nicht zu viel zu sagen, meinte ich stumpf: „Ich würde mit dir ficken."
Das überraschte Mark so sehr, dass er sogar die Luft kurzzeitig anhielt. Danach lief er rot an, schüttelte sich und es kam mir vor, als würden ihm die Worte im Hals stecken bleiben. Ich könnte ihn jetzt aufklären, dass ich nicht wusste, ob ich bi oder schwul war, und dass ich ihn einfach sehr attraktiv und anziehend fand. Dass er komischerweise meine Neugierde geweckt hatte und ich seitdem das Verlangen spürte, es mit einem Mann auszuprobieren. Dieses Verlangen beschränkte sich momentan jedoch ausschließlich auf ihn. Doch ich war kein Freund vom viel Reden. Jedenfalls nicht in diesem Moment. Seine zurzeit abweisende Art nervte mich extrem und so sank mein Interesse an ihm.
„Ich bin verlobt...", brachte Mark nun doch einen Satz über seine Lippen.
„Und ich nicht dumm. Es ist bestimmt nur eine Schutzbehauptung, damit dir niemand zu nahe kommt", erwiderte ich und stand auf. In diesem Alter schon verlobt und kein Anzeichen darauf, dass sein Verlobter auch tatsächlich existierte. Keine Ahnung, was er alles verheimlichte, doch das war mir zu kindisch. Möglicherweise hatte Kunpimook mit seiner Aussage „spießig und langweilig" doch nicht so Unrecht gehabt.Mein Weg führte mich zum Schulgebäude zurück, aus dem mir Jinyoung und Caro entgegen kamen. „Nein, Mittwoch habe ich keine Zeit für das Projekt. Nach der Schule habe ich Training und im Anschluss ein wichtiges Abendessen, auf das meine Eltern bestehen."
Hier schienen alle den Deutschunterricht ernst zu nehmen und ihn frühzeitig bearbeiten zu wollen. Was für Streber wir doch alle waren.
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Zwischen Liebe und Lügen - Die Verlobung
Romance„Deine schlechte Anmache kannst du vergessen", bestätigte das andere Mädchen. Himmel, wie sind die denn drauf? „Sicher, dass ihr nichts von mir wollt?" Da sich nichts bei mir regte, nahm die Schwarzhaarige ihre Hand wieder weg und sagte zu ihrer Fr...