▶ 𝕂𝕒𝕡𝕚𝕥𝕖𝕝 𝟙𝟚 - ℙ𝕒𝕣𝕥 𝕀

22 9 10
                                    

"Wohl dem Menschen, wenn er gelernt hat zu ertragen, was er nicht ändern kann, und preiszugeben in Würde, was er nicht retten kann."
(Friedrich Schiller)

• • • • • • • • • •

"Na los, beweg dich", zischte Mike und stieß Olivia ein Stück nach vorne.

Sie ging absichtlich langsamer, versuchte, nicht offen zu zeigen, wie gut sie diesen Weg kannte, auch wenn sie wusste, dass es nichts ändern würde. Sie brauchten sie doch eigentlich gar nicht hierfür; sie hätten die Tunnel und Gänge auch allein absuchen können.

Und doch hatten sie sie mitgenommen. Wozu? Um an ihr ein Exempel zu statuieren und die anderen einzuschüchtern? Oder wollten sie sie in ihren letzten Minuten noch quälen? Mit jedem Schritt hatte Olivia das Gefühl, stärker gen Boden gezogen zu werden. Ihre Beine wurden schwer, ihre Schritte schleppend, als würde sie im kalten, feuchten Beton versinken.

Sie ging Umwege, hoffte, dass es niemandem auffiel. Sie schindete Zeit, wenngleich sie nicht wusste, ob es half. Wie lange konnten sie hier unten die Stellung halten, bevor sonst wie viele Erase-Einheiten auftauchten? Liv war bewusst, dass sie das Unvermeidliche lediglich aufschob.

Sie hatte versagt. Es war ein dumpfes und beklemmendes Gefühl, das sich nach und nach in ihr ausbreitete und schlussendlich ihren ganzen Körper erfüllte. Am Ende waren ihre Mühen umsonst gewesen. Am Ende hatte sie niemanden gerettet. Am Ende hatte sie nicht zu sich selbst gefunden; bloß zu der ernüchternden Erkenntnis, dass in der Welt, in die sie hineingeboren worden war, die Unterdrückten weniger geschenkt bekamen als sich die Unterdrücker einfach nahmen.

"Ist das hier der richtige Ort?", wollte Sergeant Reed leise wissen, als sie vor der Stahltür zum Stehen kamen.

"Ja", flüsterte Olivia kaum hörbar.

Sie trat näher an die Tür heran und legte beide Hände auf das kalte Metall. Hinter dieser Tür lag eine kleine Welt. Eine kleine Welt, aufgebaut von Händen, die Kummer und Leid erfahren hatten, aber noch immer Hoffnung und Güte in sich trugen.

"Klopf an", forderte Sergeant Reed und zog ihre Waffe.

Mike und Ruby taten es ihr gleich. Liv konnte hören, wie die Waffen entsichert wurden. Sie lehnte ihre Stirn an die Tür und schloss die Augen. Würde man ihr eines Tages verzeihen, dass sie nicht stark genug gewesen war? Würde Artemis ihr vergeben können? Olivia hatte nie verstanden, was sie in ihr gesehen hatte, als sie sie vor zwei Jahren für den Widerstand rekrutiert hatte. War sie wegen der Position ihres Originals nur ein Mittel zum Zweck gewesen oder hatte man wirklich an sie geglaubt?

"Klopf an, verdammt nochmal!", wiederholte der Sergeant drängend.

Olivia richtete sich wieder auf, dann klopfte sie an die Tür.

Klopf, klopf, klopf. Pause. Klopf-klopf. Pause. Klopf-klopf.

Sie wartete. Und es passierte: nichts. Also versuchte sie es noch einmal.

Klopf, klopf, klopf. Pause. Klopf-klopf. Pause. Klopf-klopf.

Wieder geschah nichts. Keine Geräusche von der anderen Seite, niemand, der die Tür entriegelte.

"War das das richtige Zeichen?", verlangte Mike zu wissen. "Hast du sie gewarnt? Wenn du sie gewarnt hast, knalle ich dir eine Kugel ins Hirn."

"Foster", warnte Reed ihn.

"Tut mir leid", sagte Olivia leise.

Sie ließ ihre Hände über den glatten Stahl gleiten und griff nach der Türklinke. Sie ließ sich nach unten drücken und die Tür sich aufschieben. Sie war nicht verriegelt. Warum, um alles in der Welt, hatten sie die Tür nicht verriegelt? Sie lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen und schob sie weiter auf; erwartete dabei jeden Moment, mit der Maschinenpistole von dem großen Mann, nach dessen Namen sie noch nicht gefragt hatte, erschossen zu werden.

Aber hinter der Tür stand niemand. Bis auf das Surren der alten Lampen herrschte in der Anlage Totenstille. Liv hatte noch nie erlebt, dass es dort unten so still war.

"Foster, Simmons; Sie überprüfen die Räume links und rechts. Ich gehe nach vorne", befahl Sergeant Reed.

Ruby und Mike gingen voran, überprüften die Küche, den Schlaf- und Krankensaal.

"Frei."

"Hier auch."

"Der Raum ist auch frei."

Sergeant Reed ging an ihnen vorbei und stieß die Tür zum Besprechungsraum auf. Als sie feststellte, dass auch dort niemand war, ließ sie ihre Waffe sinken und fluchte lautstark. Olivia, die an der Eingangstür ausgeharrt hatte, folgte ihr nun langsam. Sie sah in jeden Raum hinein, aber es war tatsächlich niemand mehr da. Die meisten Sachen hatten sie zurückgelassen, also waren sie wohl fluchtartig aufgebrochen. Aber warum? Woher hatten sie gewusst, dass sie gehen mussten?

Eigentlich war es egal. Die bloße Möglichkeit, dass sie in Sicherheit waren, brachte die Hoffnung zu ihr zurück. Das hier mochte ihr Ende sein, aber es war nicht das Ende für 81 andere Klone. Sie hatten noch eine Chance. Olivia wurde von einer solch großen Welle der Euphorie ergriffen, dass sie nicht anders konnte, als laut zu lachen.

Ihr Lachen schallte von den hohen Wänden zurück, verließ die Anlage und breitete sich in den Gängen und Tunneln aus. Es vertrieb die Trübsinnigkeit, die sie vor wenigen Augenblicken noch zu Boden gezogen hatte. Vielleicht, ganz vielleicht, hatte diese Welt doch noch etwas für die Unterdrückten übrig.

Olivias Lachen verstummte, als Sergeant Reed sie mit dem Griff ihrer Handfeuerwaffe niederschlug. Sie sackte in sich zusammen, traf hart auf dem Beton auf. Wieder drehte sich alles um sie herum, aber sie rollte sich auf den Rücken und begann auf ein Neues zu lachen.

Wenn es so etwas wie ein Leben nach dem Tod gab, würde sie sich bei Artemis entschuldigen und ihr klarmachen müssen, dass sie sich doch für die Sache opfern würde. Dass sie sich für alle opfern würde. Für die, die sie kannte, und auch für die, die sie nie kennenlernen würde.

Und es machte ihr nichts aus.

"Machen Sie mit ihr, was Sie wollen, Foster", meinte Reed kalt und stieg über ihren Körper hinweg. "Ich muss nach draußen und Verstärkung anfordern. Der Funk kommt hier unten nicht durch."

Das ließ sich Mike nicht zweimal sagen. Kaum, dass sein Sergeant verschwunden war, trat er näher an Olivia heran. Er sah von oben auf sie herab, während sie noch immer lachte. Sie konnte nicht aufhören zu lachen, obwohl ihr Zwerchfell schon schmerzte. Ihr war warm, verdammt warm, und ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er kurz vorm Explodieren.

Mike ertrug ihr Lachen nicht. Er wollte, dass sie damit aufhörte. Deswegen trat er nach ihr. Der erste Tritt traf ihre linke Hüfte, der zweite ihren Rücken, als sie sich auf die Seite rollte. Das Lachen blieb ihr im Hals stecken und sie schnappte nach Luft.

Ein weiterer Tritt traf ihren Rücken, doch als er ein viertes Mal ausholte, hinderte ihn ein lautes Schreien am erneuten Zutreten. Ruby hätte versuchen können, etwas zu sagen, ihn mit Worten aufzuhalten, aber stattdessen stürzte sie sich mit einem Urschrei auf Mike. Sie sprang auf seinen Rücken, schlang einen Arm um seinen Hals und drückte ihm, so fest sie konnte, die Kehle zu.

"Lass los, Miststück!", presste er atemlos hervor.

Er versuchte Ruby loszuwerden, doch sie hatte ihn fest im Griff. Sie hatte ihre Beine wie ein Schraubstock um seine Körpermitte geschlungen und ließ sich nicht abwerfen. Ihr rechter Arm lag an seinem Hals und mit dem linken zog sie ihn noch enger.

Liv beobachtete das Schauspiel. Rubys Einsatz sorgte dafür, dass etwas Essentielles in sie zurückkehrte: ihr Überlebenswille. Sie rutschte langsam in Richtung Wand und zog sich an dieser ein Stück hoch. Noch schaffte sie es nicht auf die Beine, aber sie konnte sich zumindest aufsetzen.

ripped off minds; stolen livesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt