10. Kapitel

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Das monströse Blatt der Pflanze in meinem Zimmer wedelt sanft auf und ab. Der leichte Luftzug, den das Notizbuch von Joyce verursacht, während sie darin herumblättert, versetzt die Pflanze erneut zaghaft in Bewegung.

Sie blickt nicht sonderlich zufrieden auf ihre Notizen und als sie ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkt, wirkt sie noch unzufriedener.

»Was haben Sie sich dabei gedacht, Mr. Barnes?« Es fühlt sich wie ein Stich mit dem Messer an, als sie mich so distanziert mit meinem Nachnamen anredet. Wir waren schon einen großen Schritt weiter gewesen. Aber ich weiß selbst, was uns zurückgeworfen hat. Mein Ausflug in die Bibliothek.

Joyce hatte nach meinem Zusammenbruch die ehrenvolle Aufgabe, mich zusammen mit ein paar Pflegern vom Boden aufzukratzen und zurück in mein Zimmer zu bringen. Dabei hat sie den geöffneten Zeitungsartikel der hiesigen Feuerwehr natürlich gesehen und direkt die Ursache für meinen Zusammenbruch gefunden.

Kleinlaut sehe ich sie an. »Ich dachte...wenn ich Antworten finde...« Stotternd breche ich ab und senke beschämt meinen Blick. Ich war dumm gewesen, vorschnell und habe ihr nicht vertraut. Stattdessen habe ich meinen eigenen Kopf durchgesetzt.

Immerhin war es sogar erfolgreich gewesen. Ich weiß nun, wie es zu dem Unfall gekommen war. Also war es nicht ganz umsonst gewesen. Das Problem ist, dass Devon seitdem präsenter ist, als jemals zuvor.

Durch die Recherche habe ich gedacht, unsere Verbindung lösen zu können. Aber es hat nicht funktioniert.
Zwar brauche ich ihn nicht mehr als Zuflucht, um mich vor der Wahrheit zu verstecken. Jetzt brauche ich ihn auf eine andere Weise. Nämlich um mit der Wahrheit umgehen zu können.

Ich habe meine eigene Freundin umgebracht. Ich bin ein Mörder.

Zitternd schlage ich mir die Hände vor das Gesicht, damit Joyce meine Tränen nicht sieht. Seitdem ich gestern diesen Artikel gefunden habe, ist mein Leben völlig aus den Fugen geraten. Ich dachte vorher wäre es das reinste Chaos, aber da wusste ich noch nicht, dass es noch schlimmer geht.
Mit meinen Nerven bin ich einfach völlig am Ende.

Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Eigentlich möchte ich gar nichts mehr glauben. Mir erscheint die Möglichkeit, mich hier im Zimmer in eine Ecke zu verkriechen, auf einmal traumhaft und zukunftsorientiert. Aber das kann ich nicht. Das würde Joyce nicht zulassen und das ist auch besser so.

»Ich habe...Ich habe sie geliebt. Wir waren noch frisch zusammen, aber sie hat mir alles bedeutet...sie ist tot...Durch meinen Fehler...« Schluchzend kommen diese zusammenhanglosen Worte über meine Lippen. »Ich weiß nicht, wie ich damit weiterleben soll«, füge ich mit tränenerstickter Stimme hinzu.

Auf einmal spüre ich zwei Arme, die mich sanft umarmen. Kurz stockt mein Herz, weil ich denke, dass es Devon ist. Aber der würde mich niemals umarmen. Und er riecht nicht nach diesem blumigen Parfüm, wie es Joyce tut.

Im ersten Moment ist es mir unangenehm, sie so nah bei mir zu spüren. Ich erinnere mich daran, wir sehr meine Psyche dicht gemacht hat, nachdem mich Joyce in der Cafeteria berührt hatte. Rückwirkend betrachtet macht diese Reaktion meines Körpers absolut Sinn. Denn mein Unterbewusstsein wusste von Lizzy und ihrem Tod. Ich konnte keine andere Frau an mich heran lassen, solange ich ihren Tod nicht verarbeitet hatte. Also habe ich mich zu Devon und seiner Stimme geflüchtet.

Mein ganzer Körper bebt, während ich mein Gesicht auf Joyce Schulter lege. Wie bei einem kleinen Kind fährt sie mir mit einer Hand beruhigend über den Rücken. Mittlerweile ist mir vor ihr einfach nichts mehr peinlich. Sie kennt mich wie es aussieht besser als ich mich selbst.

»Du hast bereits eine Möglichkeit gefunden, mit ihrem Tod umzugehen.« Ihre sanfte, ruhige Stimme ist ganz nah an meinem Ohr. Eine leichte Gänsehaut zieht über meinen Hals und ich versuche, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie spricht mich wieder mit meinem Vornamen an.

TodesengelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt