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Wie als Antwort schritt der Rothirsch wieder voran, als sie fragte, ob sie absteigen solle. Der Ritt schien ihr neue Kraft verliehen zu haben, und auch Runas matschig – graues Kleidchen war beinahe trocken. Sie durchquerten die Lichtung und streiften durch die umliegenden Baumreihen, bis das Kind das beruhigende Rauschen eines gewundenen Bachs vernahm. Ehe sie sich' s versah, hielt das anmutige Tier auch schon am Ufer. Mit dem Geweih deutete es auf den Boden. Sollte sie absteigen? Runa schwang ihr rechtes Bein hinüber zur linken Seite und rutschte dann auf den Boden. Weil sie noch etwas wackelig auf den Beinen war, setzte sie sich im Schneidersitz ins weiche Moos. Sie schaute zu dem Hirsch auf. ,,Danke", lächelte sie und tätschelte die muskelbepackte Brust. Dankbar tat sie es ihm nach, in großen Schlucken das glasklare Wasser aus dem Bach zu trinken. Als der Rothirsch plötzlich im Unterholz verschwand, schaute Runa besorgt auf. Würde er sie jetzt alleine zurücklassen? Doch wenig später tauchte das braune Tier auch schon zwischen den Bäumen auf, ein Stück Rinde zwischen die Lippen geklemmt. Brüderlich hielt er es Runa hin.

Das war ihre Ankunft und damit der Anfang einer innigen Freundschaft gewesen. Runa wusste bis heute nicht, wieso sie an jenem Tag unten am Strand gelegen hatte. Doch sie dachte gerne daran zurück, wie sie die ersten Nächte zwischen ein paar liegenden Tieren – stets gehütet von einem, das Wache hielt – verbracht hatte. Inzwischen verband sie eine Reihe von Erinnerungen mit der Insel.

So hatte sie sich erst zurechtfinden und sich von den Bewohnern abschauen müssen, welche Plätze die sichersten waren, wo man das erfrischendste Wasser trinken konnte und was für Früchte man lieber nicht anrührte. Zugegeben, es waren ihr dabei einige Missgeschicke passiert. Beim Hangeln an einer Liane, so wie es die wendigen kleinen Äffchen immer taten, hatte sie sich das Handgelenk böse aufgeschürft, doch das kühle Wasser aus dem Glitzerbach hatte Wunder gewirkt. Als Runa in den ersten Tagen hungrig im Wald herumgestreift war, hatte sie rote Beeren – wohl die falschen, wie ihr Magen ihr später durch einen Riesenaufstand zu verstehen gegeben hatte - von einem schlaksigen Baum gepflückt.

Die meiste Zeit verbrachte das Mädchen immer mit dem Rotwild, dort, wo es gerade äste. Sobald das Hirschrudel an einem Platz nicht mehr genug Futter fand, zog es ein wenig weiter auf der wilden Insel. Oft machte Runa mit ihrem Lebensretter ausgedehnte Ausflüge und lies sich von ihm die atemberaubende Landschaft zeigen. Und die barg allerlei Unerwartetes. So kam es schon einmal vor, dass man inmitten des dichtesten Waldstücks eine weite Lichtung, leuchtend in allem erdenklichen Blütenfarben und -arten, oder auch einen zauberhaft schönen Kristallsee entdeckte. Die Insel gab ihnen beinahe jeden Tag einen ihrer wildromantischen Plätze zur Erkundung frei.

Zwar sehnte sie sich ab und an nach der Gesellschaft anderer Menschen, doch sie hatte die Insel des Vergessens lieben gelernt. Sie war... unbeschreiblich schön. Facettenreich. Bunt. Hier lebten so viele faszinierende Tiere. Wie farbige Libellen, gleitende Flughörnchen, nachtaktive Stachelschweine, scheue Waschbären, leuchtende Singvögel und nicht zuletzt natürlich das Wild.

Auf der Insel wuchsen allerlei exotischer Früchte wie Mangos, Kokosnüsse und Avocados. In jeder Ecke hielten die Pflanzen Abwechslung für eine Stärkung bereit.

Schon seit dem ersten Tag fühlte sich Runa hier heimisch. Es gab so viel zu entdecken, dass sie am liebsten Tag und Nacht neue Plätze erkundet hätte. Ihr schien es, als hätte sie sich erst mit einem klitzekleinen Teil der Insel bekanntgemacht.


Der zauberhafte HöhlenspiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt