Sie blinzelte, fand wieder zurück ins Hier und Jetzt. Dann vernahm sie das laute vertraute Röhren ihres Freundes. ,,Ja, ich komme!", rief sie ihm zu, sprang auf und sprintete den Strand entlang, auf die Quellerwiesen zu, dann Richtung Wald. Am Waldrand wartete ihr Verbündeter geduldig und als wolle er sagen: ,Da bist du ja endlich!', schaute er sie durch seine großen braunen ansehnlichen Augen treu an. Runa konnte nicht anders, als ihm einen Schmatzer auf den Fellwirbel auf seiner Stirn zu geben. Als der Hirsch auffordernd mit dem Huf scharrte, schwang sie sich geschickt auf seinen Rücken, schon im nächsten Moment fiel das Tier in einen dynamischen Trab, und Runas Kleid wehte in der sanften Brise, die den Inselbewohnern die gute Laune einhauchte.
Noch am selben Nachmittag erreichte die Kleine mit dem Rudel zusammen den neuen Weideplatz: Ein Tal in den Nebeln, durchzogen von einem breiten Strom, bewachsen von hohen Gräsern und schmackhaften Kräutern. Am Fuße der Berge fand sie einige Beerensträucher, von denen sie sich stärkte, bevor sie ein glimmendes Feuer einige Schrittlängen vom Fluss, an dem das Wild trank, entfachte. Nachdem Runa Pilze und Kräuter gesammelt und nach zahlreichen gescheiterten Versuchen einen Fisch gefangen hatte, hängte sie eine große Kokosnussschale über das Feuer an ein mit Steinen gehaltenes Stöckekonstrukt, füllte dort klares Wasser aus dem Fluss und ihre Beute ein und ließ es köcheln, bis die Brühe schmackhaft zu duften begann. Dann nahm sie die Schale vom Feuer und schlürfte die heiße Suppe genüsslich, während die Hirsche sie verständnislos beäugten. Als sie nach dem Essen an der Feuerstelle im Gras lag und sich wärmte, schaute Runa verträumt in den Himmel, der in harmonischen warmen Tönen die Sonne verabschiedete. Dabei lauschte sie der ruhigen Melodie, die der Wind ihr in die Ohren blies. Wenn sie recht überlegte, war das hier das Beste, was ihr je passiert war. Sie hatte zwar keinen Vergleich, aber... Moment! Runas Gehirn ratterte und werkelte. Vor ihren schönen Augen tat sich ein Bild auf. Sie sah sich, wie sie auf einer Wiese in bergigem Gelände mit Kälbern spielte. Eine weiche Damenstimme rief sie. Und da verschwand das Bild auch schon in dem Moment, als das Kind begriff, dass dies ein Erinnerungsbrocken gewesen sein musste. Denn... Es hatte sich so vertraut, so bekannt angefühlt. Und doch war es eine beklemmende Empfindung zugleich. Ihr war es vorgekommen, als hätte sie jeden Tag ihres Lebens auf dieser Wiese verbracht. Doch es blieb vorerst bei dem Gefühl. Sosehr sie auch grübelte, mehr wollte ihr Gedächtnis nicht ausspuckten. Ihr Kopf schmerzte, die Sonne war schon hinter den Gipfeln verschwunden, und Runa machte sich daran, die Feuerstelle zuzuschütten. Daraufhin gesellte sie sich zu ihren Begleitern, die noch längst nicht müde waren. Sie schliefen meist erst in den späten Nachtstunden ein. Lediglich das jüngste Tier legte sich in die Mitte der von den Ausgewachsenen bewachten Grasfläche. Das Mädchen bettete sich zwischen seinen schlaksigen Beinen ein und schloss die Augen.
✯
Des nächsten Morgens war Runa - wie gewöhnlich - als erste auf den Beinen, sobald die Sonne mit dem Kopf über die Gipfel der Berge spähte. Sie blieb noch eine Weile im Gras liegen und lies des Blick über die zerklüftete Berglandschaft gleiten, genoss den Moment. Doch die schlagartig aufkommende Erinnerung von gestern zerfraß das alles. Die Almwiese, die Stimme. Was bedeutete das alles? Sie versuchte sich dem zu entziehen, indem sie aufstand, um sich am nahegelegenen Fluss zu waschen und sich durch eine Ladung Himbeeren und das sättigende Fleisch einer Kokosnuss zu stärken. Als Runa vor dem Strom hockte und trank, näherte sich ihr ein Schatten von hinten. Sie spürte die feuchte Nase ihres haselnussbraunen Freundes im Nacken. Belustigt und erschrocken zugleich schlug sie einen Purzelbaum nach vorne und landete direkt im blauen Nass. ,,Ey!" Sie schüttelte sich und bibberte vor Kälte. Entschuldigend brummelte der Geweihträger vor sich hin und streckte ihr sein Gehörn hin. Dankbar griff sie danach und lies sich von dem Tier aus dem rauschenden Wasser ziehen. „Du Frechdachs!", schimpfte Runa liebevoll. Reumütig schmiegte der Hirsch sich an sie, als sie wieder am Ufer des Stroms stand. Jetzt war sie aber ordentlich gewaschen worden! Sie nahm ihr triefendes Kleid in die Hand und wrang es aus, sodass ein dicker Wasserschwall auf dem Boden aufklatschte. Ebenso tat sie es mit ihren langen Haaren, welche sie anschließend flocht und mit einem dicken Halm zusammenband. Langsam gewannen die Sonnenstrahlen an Intensität, und Runa fröstelte nicht mehr allzu sehr.
Etwas später lag Runa gemütlich auf dem weichen Rücken ihres vertrauten Freundes und genoss zusammen mit ihm die reizende Aussicht auf einem der kleineren Berge. Die Wolken zogen am Himmel dahin und formten auf ihrer Reise alle erdenklichen Formen. Einmal meinte Runa, ihren Vierbeiner zu erkennen. Es dauerte nicht lange, da kitzelte der Sonnenglanz die Abenteuerlust aus den Beiden heraus. ,,Na, erkunden wir etwas die Gegend?", forderte die Braunhaarige ihren Hirsch auf, welcher nicht lange auf sich warten lies und gleich losstürmte.
DU LIEST GERADE
Der zauberhafte Höhlenspiegel
FantasíaRuna ist ein Mädchen mit rätselhafter Vergangenheit. Nachdem sie am Strand einer menschenleeren Insel angespült wird, rettet sie ein Rothirsch. Die Zwei bauen eine innige Freundschaft auf. Zusammen erkunden sie die zauberhafte Insel und Runa wird me...