Sie befanden sich nicht länger in der Höhle, sondern standen auf einer durch Täler und Passkehren gewundenen Asphaltstraße. Um sie herum sah es einladend aus: Die Straße war von Bäumen gesäumt, die sich langsam von ihrem Blätterkleid befreiten, hier und da wuchsen Spätblüher, die Vögel zwitscherten eine liebliche Melodie, die Runa bei genauerem Hinhören bekannt vorkam, und der Wind strich ihr sanft durchs Haar. Schon im nächsten Moment gewann er an Kraft und blies aus aller Fülle, er lies die Blätter wirbelnd über die Straße tanzen und als sich die Brise legte, stand eine Gruppe von Menschen in einiger Entfernung am Wegesrand. Darunter Kinder ihres Alters, ein paar Jüngere und ein paar Ältere, einige Erwachsene besten Alters – einer davon hielt einen schlafenden Säugling im Arm – und ein älteres Paar, schon grau auf dem Kopf. Es kam dem Mädchen vor, als wären es mehr Menschen als es Rothirsche in ihrem Rudel gab. Sie hatte kaum den Überblick. Das Mädchen besah sie genauer. Alle waren sie verschieden, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Die Locken. Runas Blick verlor sich in ihnen. Da erklang eine ihr bereits vertraute Stimme. Die der alten Frau in ihrer Vision. Sie schien der molligen, fein gekleideten Greisin anzugehören. Diesmal sprach sie bestimmter, drängender zu ihr: ,,Komm zu uns auf die andere Seite des Wassers, Runa! Du bist unser und wir sind dein! Du wirst nicht länger sein müssen allein!" Dem Hirsch entfuhr ein kurzer Schrecklaut, das Mädchen schüttelte sich, als wolle es das Unbehagen so loswerden, ehe sie sich wieder wie zuvor, als wäre nichts gewesen, vor dem Höhlenspiegel vorfand. Sie und ihr vierbeiniger Vertrauter wechselten einen vielsagenden Blick, bevor der Edelhirsch in seinen wie üblich weichen, fleißigen Trab verfiel, zurück dahin, von wo sie gekommen waren. Auch, wenn er leicht panisch aufgerissene Augen hatte, war der Geweihträger erheblich ruhiger als Runa. Jene war noch überrascht und überwältigt von diesem prägenden Ereignis. Als sie durch die Höhlengassen schon fast am Ausgang angelangt waren, hatte sich ihr Atem wieder beruhigt, ihre Knie zitterten nur noch ein wenig und sie war in der Lage, das Erlebte zu reflektieren. Der Vierbeiner war nicht mehr und nicht weniger nervös, als zuvor am Spiegel. Doch es war nicht das Geschehene selbst, es war Runas bevorstehende Reaktion, die im Angst bereitete. Sogleich er durch den Wasserfall, der vor dem Höhleneingang hing wie ein schützender Vorhang, schritt, spitzte er seine Lauscher. Denn er hörte Runa sagen: ,,So leicht holt mich hier keiner weg, von der unberührten Natur, dem Rudel und vor Allem von dir!" Und das hörte er gern.
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Der zauberhafte Höhlenspiegel
FantastikRuna ist ein Mädchen mit rätselhafter Vergangenheit. Nachdem sie am Strand einer menschenleeren Insel angespült wird, rettet sie ein Rothirsch. Die Zwei bauen eine innige Freundschaft auf. Zusammen erkunden sie die zauberhafte Insel und Runa wird me...