„Wow!" Sie standen auf einem Plateau an einem der vielen Berghänge und blickten zu dem Wasserfall, der sich neben ihnen in die Tiefe stürzte. Die am Berghang blühende Lupinenwiese harmonierte perfekt mit den am Tageslicht glitzernden Wasserperlen. Kurz kam Runa der Gedanke, sich vom Rand des Plateaus, welches in seiner Mitte vom Wasserfall verschlugen zu werden schien, mit den Wassermassen mitreißen zu lassen, doch diesen leichtsinnigen Gedanken schlug sie sich gleich wieder aus dem Kopf. Schließlich hatte sie heute bereits ein eisiges Bad genommen und wenn sie es sich recht überlegte, sah der Wasserfall ziemlich gefährlich aus. Sie schüttelte innerlich den Kopf über sich, solche knochenbrecherischen Ideen zu haben. Sie war doch nicht lebensmüde! Doch auch dem Hirsch schien es der Wasserfall scheinbar angetan zu haben. Wie in Trance setzte er einen Huf vor den anderen in Richtung Wassersturz. Die Kleine auf seinem Rücken spürte bereits den ein oder anderen Tropfen auf ihrer weichen Haut zerrinnen. Runa fragte ängstlich lachend: ,,Großer? Was wird das?" Der Hirsch reagierte nicht wie sonst. Nicht einmal seine Lauscher zuckten. Es waren nur noch ein paar Hufbreiten bis zum Abgrund.
Die Bilder hätten sich keinen unpassenderen Augenblick aussuchen können, um vor Runas Augen zu erscheinen. Nervös versuchte sie sie weg zu blinzeln, doch die ungebetenen Gäste ließen sich nicht forttreiben... Runa brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu registrieren, dass es wieder die Szene auf der Kuhwiese war. Vor ihr tat sich die zerklüftete Landschaft auf und sie fühlte sich, als stünde sie auf dem Berghang. Sie meinte sogar, das kurzgefressene Gras an ihren Fußsohlen zu spüren. Dann erklang wieder die Damenstimme: ,,Runa, lass dich leiten, hab Vertrauen in den Instinkt!" Das Bild verschwand und das nächste, ebenso nervenaufreibende erschien ihr. Der Geweihträger stand beinahe im Wasserfall, seine Hufe schienen von den Wassermengen weggespült zu werden. ,Nein!', wollte sie schreien, doch ihr Rachen lies nur ein heiseres Krächzen passieren. Dann spürte Runa das Wasser auf ihren Körper drücken und war sich sicher, das hier wäre jetzt das Ende. Gewiss würde mindestens einer von ihnen hier seine Lebendigkeit verabschieden müssen. Alle Erinnerungen – und das waren nun einmal nur die von ihrem Verbleib auf der Insel – spielte ihr Gehirn im Zeitraffer ab. Ihre ersten Tage, aufregende Erkundungstouren, die vergangenen Tage... Ungeduldig darauf, was als nächstes kommen würde, wartete das Mädchen auf den Augenblick, in dem die Kraft sie nach unten pressen und ins Verderben stürzen würde. Doch er kam nicht. Wieso? Erschrocken und aufs Schlimmste vorbereitet blinzelte die Braunhaarige etwas. Doch sie sah nur... Schwarz. Hören konnte sie. Sie hörte die federnden Schritte ihres Vierbeiners und das Rauschen des kraftvollen Perlenbundes. Spüren konnte sie. Sie spürte die Rückenmuskeln unter ihr und das Kleid an ihrem Körper kleben. Die auf sie einschlagenden Wassermassen waren verschwunden. Im Reiten fuhr sie herum. Ein paar Hirschbreiten entfernt sah sie Licht. Versteck vom Blau. Runas Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Immer weiter entfernte sich das Tier vom Licht, immer weiter schritt er in die Dunkelheit. ,,Wo sind wir?" Die Kleine klammerte sich hilfesuchend um den Hals des Edelhirschs. Der stieß einen leisen Laut hervor. Ihr kam die Dauer jeder seiner Schritte unendlich lange vor. Trittsicher stiefelte das Tier durch die dunkle Hülle. Er schien sein Zeil sicher vor Augen zu haben und lies sich nicht beirren. Hätte das Mädchen nicht so viel Vertrauen in ihn gehabt, wäre ihr vermutlich das Herz stehen geblieben, doch gleichwohl es ihr schwerfiel, nicht zu wissen, wo sie war und ihr Leben dem Tier anzuvertrauen, war sie sich sicher, dass er wusste, was er tat. Sie meinte, sich einzubilden, einen mystischen Singsang zu hören, aber sie hatte nicht genug Zeit, sich dem zu widmen. Es fiel Licht in ihr Auge. In der Decke der Höhle, die wohl einige Meter hoch war, befand sich ein kokosnussgroßes Loch, durch welches genug Licht fiel, um einiges mehr in der Höhle zu erkennen. Auf dem Stein wuchs allerlei Moos, an den Seiten das breiten Gangs gedeihten unförmige Pilze. In ihrem Blickfeld blitzte etwas auf. Zu ihrer Rechten an der dunklen Steinwand. Ein kraftvoller Schwall Lichtstrahlen gewährte ihnen den Blick auf einen atemberaubend ästhetischen, von einer grünlich schimmernden Fassung gesäumten Spiegel. Der Spiegel war einfach nur wahnsinnig kunstvoll geschmückt und zudem riesig. Zwei Mal Runas Armspanne mit Sicherheit. Als könnte er die Triebkraft in Runa spüren, trabte der Rothirsch auf den edlen Spiegel zu. Es verschlug ihr den Atem. Das Tier kam zum Stehen. Direkt vor dem reflektierenden Glas. Beide hatten in dem Moment etwas gemeinsam, denn sowohl Runa als auch das Tier sahen sich nun das erste Mal im Spiegel. Zumindest, wenn man den Erinnerungen glaubte. Sie sah sich, ihre wilden Locken, ihr ovales Gesicht, ihr Körper durch das gräuliche Kleid bedeckt, ihre nackten Beine am weichen Bauch des Hirschs anliegend. Und auch jener betrachtete sein Spiegelbild auf der gläsernen Fläche. Es bedurfte einen Augenblick, bis er registrierte, dass er es war. Er sah einen seiner Art mit dem Menschenkind auf dem Rücken, und da es sonst keiner trug, erschloss es sich ihm, dass dieses Ding ihn darstellte. Mit seinem breiten Geweih, seiner muskulösen Brust, seinen schlanken Läufen...
Der Geweihträger und seine Reiterin hatten nicht allzu viel Zeit, sich zu mustern, es blitze urplötzlich ein Bild im Spiegel auf, welches sie verschlang.
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Der zauberhafte Höhlenspiegel
FantasyRuna ist ein Mädchen mit rätselhafter Vergangenheit. Nachdem sie am Strand einer menschenleeren Insel angespült wird, rettet sie ein Rothirsch. Die Zwei bauen eine innige Freundschaft auf. Zusammen erkunden sie die zauberhafte Insel und Runa wird me...