Dunkelgrau

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„Ich war lange depressiv", beginnt sie zu erzählen, „ich wusste es bloß nicht. Ich fand mich hässlich, ich fand euch hässlich, ich fand die ganze Welt hässlich. Bis heute weiß ich nicht warum oder woher diese Depressionen kamen. Vielleicht zu wenig Serotonin im Hirn, vielleicht irgendein Trauma aus der Kindheit, keine Ahnung. Ich war auch nicht immer dick. Das kam erst mit sechzehn oder siebzehn. Passte aber gut zu meiner dunkelgrauen Stimmung und meinem negativen Selbstbild. Und ich fühlte mich wohl in dieser Hässlichkeit und Einsamkeit, so verrückt es klingt."

Ich höre ihr schweigend zu. Depressiv also. Wieso hatten wir davon nichts gemerkt? Hatten wir nicht genau hingesehen? Wollten wir da nicht sehen? Lebten wir so oberflächlich? Jana, wäre das bestimmt aufgefallen. Aber Jana war Jana.

„Mein Körper war der Grund, warum ich keine Beziehung hatte, so dachte ich. Warum sich keiner in mich verliebt, warum ich einsam war. Aber das war Blödsinn, wie ich heute weiß. Ich war der Grund, nicht mein Körper, ich, meine Unfähigkeit mich selbst zu lieben. Oder gar jemand anderen. Meine fünfzehn Kilo zu viel waren nur Ausrede, mich meinen Beziehungsängsten nicht zu stellen. Aber der wahre Grund saß viel tiefer."

„Ich mochte dich immer sehr", versuche ich zu erwidern, „und es war mir immer egal wie du aussahst." Und dann, nach einer Pause: „Nein, war es mir nicht. Ich fand dich sogar auf eine ganz besondere Art sexy. Wenn ich nicht mit Kate zusammen gewesen wäre, wer weiß ..."

„Tja, wer weiß", sagt sie und lächelt. „Aber ich glaube nicht, dass ich es zugelassen hätte, Liz. Wie schon gesagt, ich liebte mich selbst zu wenig, als dass ich mir erlaubt hätte, mit jemand eine Beziehung zu haben. Ich wollte mich einfach niemanden zumuten. Und so versank ich immer tiefer in einem Strudel aus Selbsthass und Selbstmitleid."

„Aber du hast doch so viel versucht abzunehmen!"

Sie lacht wieder auf, aber diesmal mischt sich Bitterkeit in ihr Lachen.

„Ja, ganze elf unterschiedliche Strategien abzunehmen. Vom peniblen Kalorienzählen über Intervallfasten, Power-Yoga, jede Menge Appetitzügler bis hin zu den Weight-Watchers. Alles mit demselben Erfolg: Ich fraß nach kurzer Zeit mehr in mich hinein, als ich davor abgenommen hatte. Ganz so, als würde sich irgendwas in mir, mein Körper vielleicht, weigern, auch nur eines dieser verdammten fünfzehn Kilo loszulassen. Und das absurde dabei: Ich nahm auch nicht zu. Blieb einfach auf meinen 85 Kilo. Nicht weniger, aber auch nicht mehr."

„Das ist jetzt auch noch so", fügt sie an. Sie muss meinen Blick auf die beiden Kuchenteller bemerkt haben. „Aber jetzt macht es mir nichts mehr aus."

„Und wie kam das?", frage ich nach.

„Ich hab mir die Pulsadern aufgeschnitten!"

„Du hast was?"

„Ja, ich hab versucht mich umzubringen. Einfach so. Hat bloß nicht geklappt. Meine Mitbewohnerin in der Londoner-WG hat mich rechtzeitig gefunden und die Rettung gerufen"

„Ach Xenia!" ich griff nach ihrer Hand, sie drückte die meine und lächelte.

„Es war das Beste, was mir passieren konnte. Ich kam nach Bedlam auf die Psychiatrie. Nicht so lange, aber lange genug um dort meinen Lebensmenschen kennenzulernen: Jane, unsere Bassistin. Sie war auf Drogenentzug dort, wir verliebten uns, tja und dann, war alles irgendwie anders."

Jane also. Die junge Frau, die mich anrempelte, als ich Xenia und ihre Band im Backstagebereich besuchte? Durchaus möglich, so wie sie mich angesehen hat. Schön, denke ich. Aber da ist noch eine Frage offen.

Jana und Liz - Teil 9: Fünfzehn Kilo zu vielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt