CHAPTER THIRTY TWO: Erneute Wahrheiten

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Plötzlich bin ich hellwach.

Mein Herz schlägt so schnell, dass ich sein Pulsieren in meinem gesamten Körper spüren kann. Ich habe keine Ahnung woher meine plötzliche Klarheit kommt, aber sie ist allgegenwärtig. Es hatte keinen Sinn ergeben, dass Vecna mich verschont hatte, hatte er doch bislang niemanden verschont, den er zu seinem Opfer auserkoren hatte. Die ganzen Wochen über haben wir uns Gedanken über das Warum gemacht und plötzlich bin ich mir sicher, dass ich den Grund kenne.

Ich schlage die Wolldecke schwungvoll zurück. Es gibt nur einen Menschen mit dem ich jetzt sprechen möchte, weshalb ich versuche extra leise zu sein um die anderen nicht zu wecken.

Steve liegt auf einer Isomatte vor dem Sofa, auf dem ich bis eben geschlafen habe. Er sieht friedlich aus, weshalb ich ihn am liebsten einfach schlafen lassen würde, aber ich kann nicht bis zum nächsten Morgen warten. Vorsichtig beuge ich mich nach unten und rüttle ihn leicht an der Schulter. Er ist sofort wach. Einen kurzen Moment blitzt Unruhe in seinem Blick auf, dann sieht er mich an und seine Gesichtszüge entspannen sich. Fragend zieht er eine Augenbraue hoch.

Ich deute zur Tür des Schlafzimmers, wo seitdem Hopper kaum noch hier ist, niemand mehr schläft.

Steve nickt und erhebt sich sogleich. Als ich hinter ihm in das Zimmer trete und an ihm vorbei gehe, schließt er leise die Tür hinter uns. Er sagt nichts, sieht mich nur abwartend an, wofür ich ihm dankbar bin. Ich brauche einen Moment um meine Gedanken zu ordnen. Wie soll ich dieses Gespräch nur anfangen? Bislang habe ich niemandem davon erzählt wie ich meine Kräfte einsetzen kann; wie viele unterschiedliche Möglichkeiten ich habe. Ich habe es nie für nötig gehalten, aber nun bleibt mir keine andere Wahl. Es macht mir Angst mich derart zu öffnen – mich angreifbarer zu machen als ohnehin schon. Außerdem schäme ich mich auch ein kleines bisschen. Das Gesicht des Busfahrers taucht vor meinem inneren Auge auf und ich kann nicht verhindern, dass ich das Gesicht verziehe. Ich habe in sein Leben eingegriffen; habe ihm eine Erinnerung genommen, als wäre es gar nichts. Eine harmlose, unwichtige, doch es stand mir nicht zu. Genauso wie es mir bei den anderen nicht zugestanden hatte. Es zählt nicht, dass ich mich selbst schützen wollte; nicht, dass ich es teilweise gar nicht beabsichtigt habe. Was zählt, ist die Tatsache, dass ich in den Gehirnen von fremden Menschen herumgepfuscht habe, ohne die Konsequenzen zu kennen.

»Megan, ist alles in Ordnung?«, fragt Steve nun doch. Er sieht mich besorgt an.

»Ich muss unbedingt mit dir reden«, gebe ich zurück. Meine Stimme zittert leicht. Ich räuspere mich. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber es ist wirklich wichtig ...«

»Kein Problem«, antwortet er sanft. Bei dem liebevollen Blick, den er mir zuwirft, macht mein Herz einen Satz und ich trete automatisch näher an ihn heran. Es ist ein Impuls, den ich nicht kontrollieren kann und beinahe augenblicklich streckt er die Hand nach mir aus. Dankbar lehne ich mich an seine Brust und vergrabe mein Gesicht in seinem Pullover. Er riecht gut, wie immer, aber zum ersten Mal nehme ich seinen Geruch so deutlich und so nah wahr. Ich hole tief Luft und beginne zu sprechen; meinen Kopf weiterhin an ihn gelehnt, als würde die Tatsache, ihm so nah wie möglich zu sein, das Gespräch leichter machen. »Ich glaube, dass ich den Grund kenne, warum Vecna mich nicht getötet hat«, falle ich gleich mit der Tür ins Haus, weil ich nicht weiß wie ich sonst beginnen soll.

Ich spüre wie Steve der Atem stockt. »Was?«

»Wenn ich Recht habe, dann glaube ich, dass wir ihn besiegen können.«

»Nun mal langsam, Megan, ok?« Steve legt mir einen Finger unters Kinn und zwingt mich so dazu ihn anzusehen. »Wovon sprichst du?«

Es fällt mir schwer mich zu konzentrieren, wenn er mir so intensiv in die Augen sieht; noch dazu, wenn sein Gesicht so nah an meinem ist, weshalb ich mich aus seinem Griff löse und einen Schritt zurück trete. Ich gehe ein paar Schritte auf und ab, dann lasse ich mich auf das Bett fallen, welches unbenutzt im Zimmer steht. Steve folgt mir nicht. Entweder er ist zu perplex von der Richtung, die das Gespräch einschlägt, oder er hat gemerkt, dass ich in diesem Moment den Abstand zwischen uns brauche. Vielleicht auch beides.

»Ich habe euch nicht alles über mich erzählt. Bis jetzt habe ich immer gedacht, dass es keine Rolle spielt und ich bin nicht unbedingt stolz darauf. Ich bitte dich, dass du versuchst zu verstehen, warum ich es für mich behalten habe«, beginne ich und beäuge seine Reaktion. Er nickt leicht, sieht aber skeptisch aus. Mit zittriger Stimme fahre ich fort: »Damals, als Papa -« Automatisch zucke ich zusammen, als ich den Namen ausspreche. »- die Versuche an mir gemacht hat, hat er nicht nur meine Fähigkeiten für den körperlichen Kampf getestet.«

Steves Gesicht sieht aus, als hätte man ihm einen Schlag verpasst. Seine Lippen hat er fest aufeinander gepresst und seine Hände sind zu Fäusten geballt. Ich weiß, dass er wahrscheinlich daran denkt, was ich ihnen über die jahrelange Folter erzählt habe und das ihm die Erinnerung zu zusetzen scheint. Am liebsten würde ich aufstehen und zurück zu ihm gehen, aber ich muss mich konzentrieren.

»Fast genauso wichtig war ihm damals herauszufinden welche Art von Gedankenkontrolle ich wohl hinbekomme. Am Anfang ist das immer wieder in einer Sackgasse geendet, aber irgendwann -« Ich mache eine kurze Pause. Mit den Fingern nestle ich an dem Reißverschluss meiner Strickjacke herum. Darüber zu sprechen, bringt auch in mir die vielen Erinnerungen wieder an die Oberfläche und ich merke, dass mir heiß wird. Die altbekannte Panik, die ich von damals kenne, kriecht mir den Rücken hinauf, aber ich dränge sie mit aller Kraft zurück. »Irgendwann hab ich etwas gemacht.«

Steve sagt nichts, sieht mich nur an. Sein Blick ist eine Mischung aus Neugierde und Furcht davor, was wohl als nächstes kommen würde.

»Sie haben mich an verschiedenen Mitarbeitern üben lassen. Ich weiß gar nicht genau, was sie von mir wollten; vielleicht so etwas, was ich gemacht habe, als ich in Elfies Verstand eingedrungen bin. Vielleicht wussten sie es auch selbst nicht. Wir haben so viel geübt und jedes Mal, wenn es nicht geklappt hat, dann haben sie mir einen Stromschlag verpasst.« Meine Stimme bricht und ich fasse mir an den Hals. Es ist so, als würde ein Echo des Schmerzes durch meinen Körper hallen und mein Atem beschleunigt sich. Steve ist sofort neben mir. Ich habe nicht bemerkt, dass er näher gekommen ist, aber plötzlich sitzt er neben mir und greift nach meiner Hand.

Ich sehe ihn nicht an, damit ich den Faden nicht verliere, kann aber nicht leugnen, dass mich seine Nähe doch irgendwie beruhigt. Er hat so gegensätzliche Wirkungen auf mich, dass ich es selbst nicht verstehe, aber ich kann jetzt auch nicht darüber nachdenken. Ich schiebe meine Gefühle für ihn beiseite, so schwer mir das auch fällt und zwinge mich dazu, weiter zu erzählen. »Ich weiß noch, dass ich irgendwann nach der Hand einer Krankenschwester gegriffen habe. Ich hab sie mit meinen Blicken angefleht mir zu helfen.«

»Hat sie aber nicht«, schlussfolgert Steve. Seine Stimme ist hasserfüllt.

»Nein.« Ich schüttle leicht den Kopf und sehe ihn an. »Zuerst hab ich gedacht, dass wieder nichts passiert ist und ich hab mich schon auf einen weiteren Elektroschock vorbereitet; da hat sich ihr Blick plötzlich verändert. Sie sah ängstlich aus, beinahe panisch. Sie hat sich aus meinem Griff losgerissen und herumgeschrien. Papa war erst völlig außer sich und dann hat er sie nach draußen bringen lassen. Es gab keine Bestrafung.«

Steve legt den Kopf schief und zieht eine Augenbraue hoch. »Was ist passiert?«

»Sie hatte keine Ahnung wer ich bin. Oder wer sie ist, geschweige denn wo sie ist«, erkläre ich.

»Ich verstehe nicht.«

»Das war ich, Steve«, murmle ich beinahe tonlos. »Ich hab sie vergessen lassen.«

Das letzte KapitelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt