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KAPITEL 1

angst ist so groß
und die liebe zu klein,
doch in deinen grün-blauen augen
fühle ich mich immer daheim

angst>liebe - ellice

POV: COLIN

Ich stehe auf und erhebe mich von der Treppe. Wie in Trance laufe ich von Noah weg über den Vorplatz des Internats.
Er liebt mich nicht. Noah ist nicht in mich verliebt. Er will mich nicht.
Ich spüre wie eine einzige Träne meine Wange hinunterkullert. Vorbei laufe ich an all den tanzenden, so verdammt fröhlichen Menschen. Mein Ziel ist die Skater-Rampe. Ich bemerke, wie meine Beine wackelig werden und immer mehr Tränen fließen.

Ich muss hier weg. Wie soll ich Noah nach den Sommerferien bitte unter die Augen treten? Das ist unmöglich!
Ich lege mich auf die Rampe und fange bitterlich an zu weinen.
Ich habe das doch nicht falsch interpretiert. Noah. Er hat meine Nähe gesucht. Diese ganzen Blicke, die habe ich mir doch nicht eingebildet. Wenn er mich durch seine Augen so durchdringend angesehen hat, da dachte ich, dass er alles ist, was ich brauche. Es war so perfekt. Selbst schweigen ist mit ihm nicht unangenehm, es ist entspannend.

Zusammen waren wir auf einem großen Boot. Je näher wir dem Ziel kamen, desto nervöser wurde Noah. Also wir die Insel, unser Ziel, schon fast erreicht haben, ist er von Bord gesprungen. Unangekündigt. Grundlos.

"Colin? Wo bist du denn?", höre ich auf einmal eine Stimme rufen.

"Julia? Bist du das? Ich bin hier, auf der Rampe!", rufe ich zurück, wenn auch unter Tränen.

Das Mädchen kommt auf mich zugelaufen. In der Hand hält sie meine Lederjacke.

"Hier. Es wird langsam frisch draußen."

Sie überreicht mir die Lederjacke, die ich schnell anziehe. Julia hat Recht, es wurde wirklich kühler. Ich habe das vor lauter Gedanken gar nicht wahrgenommen.

"Colin, was ist denn los mit dir? Warum weinst du?"

Sie legt mir ihre Hand auf die Schulter. Ich sehe sie an. Und in diesem Moment bricht es aus mit heraus. Mein Körper gibt nach und ich falle in mir zusammen. Doch Julia fängt mich auf und zieht mich behutsam in eine Umarmung.

"Shhh. Shhh. Alles gut. Beruhig' dich. Ich bin da."

Julia streicht mir immer wieder über den Rücken, während ich immer mehr weine und weine.

Immer wieder murmelt meine beste Freundin beruhigende Worte in mein Ohr. Ihre Umarmung tut gut, sehr gut.
Als ich mich ein bisschen beruhigt habe, fragt sie mich: "Colin, jetzt erzähl'! Was ist passiert?".

Ich streiche mir nochmal die Tränen aus dem Gesicht und atme tief durch.
"Bitte sag' erstmal einfach nichts und lass' mich erzählen. Und bitte, verurteile mich nicht!"

"Es gibt nichts, für was ich dich verurteilen würde. Dafür bist du mir zu wichtig."

"Es geht um Noah. Ich habe ihn geküsst, vor ein paar Tagen. Und es hat sich gut angefühlt, zumindest am Anfang. Erst war er total überrascht von dem Kuss. Doch ein paar Augenblicke später, hat er mich ganz leicht zurück geküsst. Und dann, dann ist er aufgesprungen und weggerannt. Seitdem war die Stimmung zwischen uns beiden so komisch. Da waren immer diese Blickkontakte, so liebevoll. Aber wir haben nicht über den Vorfall geredet. Bis ich ihn heute Abend bei der Party darauf in einem ruhigen Moment angesprochen habe. Ich habe ihm gestanden, was ich für ihn fühle. Dass mir der Kuss etwas bedeutet hat. Er hat einfach geschwiegen. Und jetzt liege ich hier."

Meine Stimme wird von Satz zu Satz, von Wort zu Wort, immer leiser und verliert an Fassung. Julia mustert mich mit besorgter Mimik.

"Wow. Damit habe ich echt nicht gerechnet. Was ist das nur für ein Arsch?! Ich bring' ihn um! Was denkt er sich dabei, dich so zu verletzen?"

Meine beste Freundin wird immer wütender auf Noah, je länger sie spricht. Sie kneift ihre Augen zusammen und ballt ihre Hände zu Fäusten.

"Julia, du sollst nicht sauer auf ihn sein. Er ist halt noch nicht bereit. Es ist doch in Ordnung, wenn er nicht so für mich fühlt. Ich kann ja niemanden zwingen, mich zu mögen."

Ich weiß gar nicht, warum ich Noah so verteidige. Eigentlich habe ich ja genug Gründe, ihn gerade auf den Mond schießen zu wollen. Aber Julia hat kein Recht so über ihn zu urteilen. Dafür weiß sie zu wenig, was passiert ist. Sie kennt die Hintergründe nicht, kennt nicht Noahs wahre Seite.

"Colin Thewes, ich weiß, du denkst, ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass Noah ein vollkommenes Arschloch ist, wenn er nicht checkt, was für ein krasser Typ du bist. Du würdest alles für ihn tuen, das weiß ich, und er verhält sich so? Er hat dich nicht verdient."

Julia klingt immer noch wütend, aber sie beruhigt sich langsam. Ich habe das Gefühl, dass Julia nur so sauer ist, weil ich so unter der Situation leide. Aber das war schon immer so.

Julia und ich waren früher, als wir noch nicht im Internat waren, haben wir nebeneinander gewohnt. Besonders als mein Vater vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, war sie da. Sie hat mich aufgefangen, ich bin nicht in ein komplettes Loch gefallen. Ohne sie wäre ich nicht der Mensch, der ich jetzt bin. Ich wäre nicht Colin.

"Morgen fahren wir erstmal wieder nach Hause. Wir genießen unseren Sommer und dann sehen wir weiter. Noah ignorieren wir erstmal."

Ihr Vorschlag ist gut. Ich freue mich auf den Sommer. Morgen Nachmittag holt Julias Vater uns ab, um uns nach Hause zu fahren. Ich freue mich auf meine Mutter und meine Schwestern. Ich habe sie lange nicht gesehen.

"Das ist eine gute Idee. Ich muss ihn nur noch eine Nacht ignorieren. Aber das ist leichter gesagt, als getan.", stelle ich trotzig fest.

Julia nimmt meine Hand und zieht mich von der Rampe hoch. Ich bin inzwischen ein kleines Stückchen größer als sie. Meine beste Freundin stellt sich auf die Zehenspitzen, beugt sich nach oben und drückt mir einen Kuss auf die Stirn zwischen meine Locken.

"Vergiss nicht Colin, ich bin immer für dich da. Liebe ist nicht immer für immer. Freundschaft ist für immer."

Heimweh nach wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt