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Kapitel 2

tu ' ich grade dir oder mir weh?
brech' ich grade dein oder mein herz?
mach ich das für dich oder für mich?

wem tu ich weh-he/ro


★★★

POV: NOAH

Ich habe geschwiegen. Ich habe ihm nicht geantwortet.

Dann ist er aufgestanden. Er ist davongelaufen. Er hat sich auf die Skater-Rampe gelegt. Später kam Julia zu ihm. Sie haben lange geredet.

Irgendwann bin auch ich aufgestanden und davongelaufen. Jetzt sitze ich hier, auf meinem Baumstamm im Wald auf der Lichtung.

Es ist mein Rückzugsort. Früher war ich mit Freddy immer hier. Inzwischen alleine, wenn ich der Realität entfliehen muss. So wie gerade.

Morgen beginnen die Sommerferien. Der Chauffeur meiner Eltern wird mich früh am Morgen abholen und mich in die Schweiz zu meinen Eltern bringen.

Dort werde ich die ersten vier Wochen der Sommerferien verbringen. Die letzten zwei Wochen fahren wir zu einem "Freund" meines Vaters. Ich soll seine Tochter kennenlernen. Sie soll die "perfekte" Freundin für mich sein.

Reich, hübsch, blonde lange Haare, schlau.

All das, was sich mein Vater für mich erwünscht. Über den Einfluss von ihrem Vater im Finanzwesen muss ich gar nicht erst reden. Für meinen Vater als Unternehmer wäre so jemand in der Familie perfekt.

Und für mich? Das hat er sich noch nie gefragt...

Sie ist alles, was ich nicht will.
Reich, blonde lange Haare, einflussreich. Doch vor allem ist sie eine Mädchen.

★★★

Es ist spät geworden. Schon lange nach Mitternacht. Meine Gedanken haben mich aufgefressen. Ich saß viel zu lange im Wald. Mein Gehirn hätte Zeit mich endgültig zu zerstören. Jetzt ist nicht nur mein Vater mit all seinen Bemerkungen und Beleidigungen in meinem Kopf, sondern auch Colin. Wie er mich mit seinen braunen Augen anklickt und ein paar Locken ihm ins Gesicht fallen. In meiner Traumvorstellung möchte ich sie ihm aus dem Gesicht streichen. Ich sehe ihn lächeln. Er hat so ein wunderschönes Lächeln.

Ich laufe durch den dunklen Flur des Internats zu meinem Zimmer. Hoffentlich treffe ich nicht auf Colin, einen wachen Colin. Langsam drücke ich möglichst leise die Türklinke hinunter. Es herrscht Stille im Zimmer. Joel schläft ruhig ohne sich zu bewegen. Ganz im Gegensatz zu der Person im anderen Bett. Colin wälzt sich von links nach rechts und zieht die Decke immer wieder enger an sich. Seine Augen sind jedoch geschlossen. Er schläft unruhig.

Ich stelle meinen Wecker auf 06:00 Uhr und stecke mein Handyladekabel in die Steckdose. Mein Handy-Akku ist leer gegangen, als ich draußen war. Dann lege ich mich ins Bett und ziehe das dünne Laken, was als meine Decke dient, an mein Kinn.

Zum Glück besiegt die Müdigkeit die Gedanken und ich drifte in einen unruhigen Schlaf ab.

★★★

Am Morgen werde ich von einem nervigen Geräusch geweckt. Schnell schalte ich meinen Wecker aus, um Joel und Colin nicht zu wecken. Colin hat seine Decke im Schlaf aus dem Bett geworfen. Inzwischen schläft er ruhiger. Er sieht süß aus, wenn er schläft.

Ich stehe auf und ziehe mich an. Ich ziehe meine einzige Anzugshose an, die ich dabei am Einstein habe. Das ganze andere schicke Zeug ist beieine Eltern. Ich nehme ein kurzärmliges weißes Hemd aus dem Schrank. Meine Haare bürste ich ordentlich zurück und mache mir einen Dutt. Als letztes ziehe ich schwarze Lackschuhe an. Ich betrachte mich im Spiegel.

Ich sehe aus wie mein Vater. Das einzige, was uns gerade unterscheidet, sind meine Haare.

Er sagt, dass lange Haare zu unmännlich aussehen. Wahrscheinlich muss ich mich deswegen auch heute Abend schon von ihnen trennen.

Ich schnappe mir meine Reisetasche und meinen Rucksack und drehe mich ein letztes Mal um.

Colin schläft immer noch. Ich habe mich nicht mal von ihm verabschiedet.

Ich laufe auf sein Bett in der Ecke zu. Seine beiden Wände hat Colin mit allerlei Dinge bestückt. Eine Urkunde von einem Mathematik-Wettbewerb, ein Kindheitsfoto von Julia und ihm, ein Familienbild mit seinen Eltern und höchstwahrscheinlich seinen kleinen Schwestern, als Colin noch klein war, eine Flasche Pastinaken Saft. Doch eine Sache an dieser Wand voller Erinnerungen, voller Colin, überrascht mich besonders: Ein Bilderrahmen. Im Bilderrahmen sind verschiedene Dinge. Als erstes sticht mir ein Selfie von Colin und mit ins Auge, danach eine Kinokarte. Er hat noch ein Zitat in den Bilderrahmen geschrieben: "Being yourself is the best advice for life!" Wie passend. Es ist noch ein bisschen Platz im Bilderrahmen übrig. Am das Außenglas hat er eine Bleistiftnotiz mit Tesa-Film festgeklebt: "Platz für weitere Erinnerungen ". Colin hat eine schöne geschwungene, runde Handschrift.

Ich beuge mich über das Bett und reiße den Zettel vom Glas ab. Ich nehme mir einen Stift vom Schreibtisch und schreibe:

Schöne Ferien, Colin.
Noah.

Ich klebe den Zettel wieder am Rahmen fest, nehme mir endgültig meine Sachen und verlasse das Zimmer.

Einen kurzen Zwischenstopp lege ich noch in der Küche ein, um mir etwas Proviant für die Fahrt zu richten. Ich packe die belegen Brote, Äpfel, Kekse und eine große Flasche Wasser in meinen Rucksack.

Mein Handy vibriert. Eine neue Nachricht von James, unserem Chauffeur.

Hallo Herr Temel,
ich befinde mich auf direktem Wege zu Ihrem Internat. In ungefähr einer Viertelstunde werde ich beh Ihnen sein.
Mit freundlichen Grüßen,
James

Wie ich diese Anrede hasse. Herr Temel. Das klingt einfach nur nach meinem Vater. Und ich will nicht sein wie er, will ihm nicht ähneln. Wenn ich einmal so ein Mensch werde wie er, dann werde ich kein glückliches Leben führen.

Ich warte draußen auf der Treppe vor dem Eingang auf James. Bei Frau Schiller habe ich mich schon abgemeldet. Sie hat mir schöne Ferien gewünscht und mich dann gehen lassen.

Ein schwarzer, unbekannter Mercedes fährt auf den Hof vor. Er hält direkt vor mir. James steigt aus.

"Guten Morgen, Herr Temel. Schön, Sie wiederzusehen."

James ist nett. Keine Ahnung, wie er es aushält, das ganze Jahr mit meinem Vater zu verbringen.

"Hat mein Vater schon wieder ein neues Auto?"

"Ja, seit drei Monaten. Hat er Ihnen nicht davon erzählt?"

"Sagen wir mal so, der Kontakt von meinem Vater und mir beschränkt sich auf das Allernötigste. Ich verschwende meine Zeit, wenn ich mich ständig mit ihm auseinandersetze."

James öffnet den Kofferraum und lädt mein Gepäck ein. Dann öffnet er mir die Türe der hinteren Sitzreihe. Ich betrete das Auto und lasse mich in den beigen Ledersitz fallen. James setzt sich vor mich und schaltet das Auto an.

"Herr Temel, die Schweizer Bergen haben Sie vermisst. Genauso wie ich."

Ich grinse ihn durch den Spiegel an.

"Danke, James. Sie sind der einzige Lichtblick im Haus meiner Eltern für mich."

Er lächelt nur und lenkt den Wagen aus dem Internatshof gen Autobahn.

Heimweh nach wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt