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Kapitel 5

help me, it's like the walls are caving in
sometimes i feel like giving up
but i just can't
it isn't in my blood

in my blood - shawn mendes

★★★

POV: NOAH

Den letzten Abend habe ich mich in meinem Zimmer eingesperrt und bin nicht mehr herausgekommen.
Wenn ich diese Menschen in diesem Haus sehen muss, bekomme ich nur Aggressionen. Babette hat mir heimlich Essen auf's Zimmer gebracht. Warum sorgt sich das Personal hier mehr um mich als meine eigenen Eltern? Das ist echt nicht normal.

Leider ist es nicht für immer möglich sich in diesem Zimmer einzuschließen. Als ich ins Bad gegangen war, hat mein Vater mich abgefangen. Er hat mich nach unten gezerrt und mich auf einen Stuhl gesetzt.

Sein Privat-Friseur hat mir dann meine langen Haare abrasiert. "Frisur für echte Männer". Das hat mein Vater gesagt, bevor der Friseur Hand angelegt hat.

Der einzige Funke Rebellion gegen meinen Vater, der übrig geblieben war, ist erloschen.

Als mein Vater dann noch angekündigt hat, dass "sein Freund Dr.Friedrich mit seiner reizenden Tochter Michelle zum Abendessen kommt", war es endgültig vorbei.

Ich will das nicht, aber ich habe keine andere Möglichkeit. Kein Ausweg vorhanden. Flucht ist unmöglich. Ich bin absolut abhängig von meinen Eltern. Ich bin vor drei Monaten 17 Jahre alt geworden, also bis zum
18. Geburtstag wäre es gar nicht mehr so lange.

Wenn ich dann den Kontakt abbrechen würde, hätte ich nichts. Kein Geld, keine Familie, keinen sicheren Beruf, keine Zukunft. Woher sollte ich Geld für ein Studium oder eine Wohnung herbekommen? Unmöglich.

In einer Stunde kommt Michelle mit ihrem Vater. Und ich protestiere dagegen: Ich liege im Bett in Jogginghose und einem ausgeleierten T-Shirt und esse Chips. Wenn mein Vater das sehen würde, wäre ich einen Kopf kürzer.

Es klopft an meiner Türe. Meine Mutter betritt das Zimmer.

"Noah, das ist nicht dein Ernst jetzt?! In 50 Minuten steht deine neue Freundin vor der Türe und du liegst hier so im Bett? Aufstehen, sofort!"

Sie zieht mir die Chipstüte aus der Hand und wirft sie in den Mülleimer. Dann läuft sie zu meinem Kleiderschrank und zieht einen Anzug heraus.

"Jetzt zackig unter die Dusche und dann ab in den Anzug! Ich erwarte dich in 15 Minuten unten."

Mit diesen Worten macht sie kehrt und verlässt mein Zimmer endlich wieder.

Gemächliche Ruhe kehrt wieder ein. Ich gähne und strecke mich langsam.

Meinen Kleidern entledige ich mich schnell und mache mich auf den Weg zum Badezimmer, um zu duschen. Im Spiegel erkenne ich mich selbst nicht wieder.

Meine Augen sehen müde und verweint aus, meine langen Haare sind weg und dem einzigen Menschen, den ich in diesem Moment erkennen kann, ist mein Vater.

Ich gehe in die Dusche und lasse mir das warme Wasser über das Gesicht laufen. Es tut gut. Meine Muskeln entspannen sich, ich entspanne ich mich. Anspannung fällt von mir ab.

Warum mache ich mir überhaupt über mein Verhalten Gedanken? Es ist doch ganz egal, wie ich auftrete. Die einzigen Leute, die ich blamieren kann, sind meine Eltern. Ich habe kein Interesse an dieser Michelle, also kann mir ihre Meinung herzlich egal sein. Es gibt Personen, die wichtiger sind für mich.

Colin. James. Babette. Ava. Nesrin. Mit etwas Glück sogar Joel.

Nachdem ich meine Haare gefönt habe und sie einigermaßen rebellisch gestylt habe, bin ich zurück in mein Zimmer. Das strenge Hemd habe ich gegen ein weißes T-Shirt getauscht und Lackschuhe gegen einfache Turnschuhe. Ansonsten werde ich wirklich noch zu meinem Vater.

Einen Todesblick von meinem Vater habe ich direkt kassiert, als ich in das Untergeschoss kam und er mein Outfit gesehen hat.

Aussagen, wie beispielsweise "Noah, du beschmierst die Familienehre!", "Noah, wie kannst du ein echter Temel sein?" oder "Noah, selbst der Haarschnitt hat dich nicht weniger schwul gemacht?" habe ich wie gewohnt gekonnt ignoriert.

Jetzt sitze ich auf dem Sofa, weigere mich ein Hemd und Lackschuhe anzuziehen und warte auf unsere Gäste.

Es klingelt. Sie sind auf die Minute pünktlich.

"Babette, öffnen Sie bitte die Haustüre."

Mein Vater ist wieder mit seiner Lieblingsbeschäftigung beschäftigt: Leute nach seinem Willen herum kommandieren. Als ob es kein besseres Hobby auf der Welt gäbe?!

Babette geht in Richtung Haustüre und öffnet diese galant.

"Guten Tag, Herr Dr. Friedrich. Ich freue mich sehr, Sie und ihre bezaubernde Tochter hier begrüßen zu dürfen. Treten Sie ein."

Dr. Friedrich spitzt die Nase und zieht seine Tochter in das Innere des Hauses. Michelle drückt Babette ihre Jacke in die Hand und sagt: "Hängen Sie bitte meine Jacke beiseite. Hier ist es warm genug."

Und genau an diesem Satz bemerke ich es. Mein Vater hat mal wieder einen arroganten und eingebildeten Mensch aus seiner Umgebung herausgefischt, der mich verändern soll. Ich hasse solche Leute, die ander wie Dreck behandeln. Aber das ist diese Geschäftswelt, von nichts kommt nichts. Für die Öffentlichkeit sind alle perfekt: Sozial engagiert, tolerant und vielfältig, menschlich. Es ist eine Fake-Welt. Jeder gibt vor, der Mustermensch zu sein, doch genau genommen sind alles Arschlöcher. Verwöhnte Arschlöcher, die sich auf ihrem Geld ausruhen und deswegen denken, dass sie sich alles erlauben können.

Beispielsituation: Meine Eltern und das Schwulsein. Einer ihrer engsten Mitarbeiter hat sich als schwul bei ihnen geoutet. Nach dem Gespräch war er entlassen.

Die Temel GmbH sei ein Ort voller Tradition, dafür stehe er mit seinem Namen. Neuartige Abschweifungen seien nicht vertretbar, weder von Volk noch von meinen Eltern als Firmenchef.

Zuhause fielen Worte und Sätze wie "Schwuchtel", "Gefahr für den Ruf des Unternehmens", "unerklärliche Neigungen zu unnatürlichen Dingen" und nicht vieles mehr.

Der damals 14-jährige Noah hatte gerade verstanden, dass er niemals Mädchen auf diese Art und Weise mögen werde und fing an, sich zu akzeptieren. Die Meinung seiner Eltern brachte ihn dazu, sich zu hinterfragen und alles, was er gerade verstanden hatte, zu verdrängen. Zu groß sei die Angst vor den Eltern. Die Angst vor Ablehnung, die Angst vor Perspektivlosigkeit in der Zukunft, die Angst vor seinen Eltern.

Zum Glück ging es ein paar Monate später dann auf das Einstein-Internat.
Es war meine Rettung. Ich habe dort gelernt, wie ich mich beherrschen kann. Deshalb gehe ich mit einem unfassbar gefakten Lächeln auf das Duo zu und drücke Dr. Friedrich die Hand.

"Guten Tag, es freut mich sehr, Sie begrüßen zu dürfen."

"Die Freude ist ganz meinerseits, Noah."

Seine Tochter tritt hinter ihrem Vater hervor und schenkt mir ein arrogantes Lächeln.

"Noah Temel, ihr Vater hat nicht gelogen, als er von deinem Aussehen geschwärmt hat."

"Michelle, du siehst genauso blond aus, wie mein Vater sagte."

In meinen Gedanken ergänze ich: "Und das Blondinen-Klischee hast du auch direkt erfüllt. Alles nur Aussehen, Charakter fehlt."

"Noah, ich bin mir sicher. Wir werden eine unvergessliche Zeit zusammen haben."

Ja, da bin ich mir auch sicher. Eine unvergesslich negative Zeit.

★★★

Heimweh nach wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt