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Kapitel 4

ich muss raus, hau' die haustür zu
einfach weg rennen, dad, ich bin genau wie du
und ich glaub' dass ich ab heute niemanden mehr brauch'
ganz alleine mit mir selbst und dem gefühl in meinem bauch

erkläre mir die liebe/juju, chapo102, philipp poisel


★★★

POV: NOAH

"Herr Temel?! Aufwachen! Wir sind angekommen."

Verschlafen blicke ich auf und sehe James, wie er den Motor des Wagens abstellt. Er steigt aus und öffnet meine Türe.

"Ihre Eltern erwarten Sie im Wohnzimmer. Babette trägt Ihr Gepäck hinein."

"Ich mache das selber, James. Danke"

Mit einer Handbewegung scheuchen ich die Angestellte meiner Eltern, Babette, weg und steige aus dem Auto. Ich laufe zum Kofferraum, nehme meinen Rucksack und die Reisetasche und öffne die große Haustür. Die Eingangshalle sieht aus wie immer. Die gleichen scheußlichen Gemälde, das gleiche komische Hirschgeweih in der Ecke, die verstaubte Ritterrüstung, das obligatorische Familienfoto aus dem letzten Sommer, als ich kurze Haare hatte. Alles eine Scheinwelt.

Mein Gepäck lasse ich stehen und betrete das Wohnzimmer.

"Noah! Gut, dass du da bist! Wir müssen reden."

Meine Mutter Christina läuft auf mich zu und umarmt mich kurz.

"Hallo Mama. Schön doch zu sehen."

Meine Mutter ist eigentlich in Ordnung. Sie steht nur unter brutalen Kontrolle meines Vaters. Sie ist abhängig von ihm.

Die schwere Türe am anderen Ende des Raums öffnet sich. Schwere Schritte erklingen dumpf auf Holzboden.

Mein Vater trägt schwarze Lackschuhe, einen Anzug. Seine Haare trägt er kurz mit einer Tonne Gel. Er stellt siene Aktentasche neben dem Sessel ab.

"Christina, schau' ihn dir doch an. Diese langen Haare. Sieht doch aus, wie ein Mädchen. So sieht kein echter Temel aus."

Meine Mutter schaut auf den Boden und nickt leicht.

Ich trete ein paar Schritte auf ihn zu.

"Hallo Lars. Wie schön, dass wir uns heute wiedersehen. Dieser Haushalt mit all seinen toxischen Höhepunkten habe ich sehr vermisst."

"Noah Temel! Hat man dir nicht beigebracht, wie man mit seinen Eltern, Respektpersonen, kommuniziert?"

Ich schweige.

"Setz' dich!"

Immer noch schweigend lasse ich mich auf dem Sessel nieder und blicke erwartungsvoll zu meinem Vater empor.

"Morgen wird mein geschätzter Kollege Dr. Friedrich zu uns zum Abendessen kommen. Begleitet wird er von seinen zwei Töchtern und seiner Ehefrau. Seine erste Tochter Josephine befindet sich in einer Beziehung mit dem Sohn des Boger Unternehmens. Seine jüngere Tochter ist in deinem Alter. Sie heißt Michelle. Ihr beide werdet die beiden Unternehmen zusammenführen und familiär weiterführen. Ihr werdet das nächste Unternehmer-Paar der Schweiz werden. Geld, Macht, Einfluss, Reichtum. Mehr braucht man im Leben nicht..."

Ungläubig schaue ich meinen Vater an. Meine Mutter blickt immer noch beschämt auf den Boden.

"Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass ich das wirklich mache. Habt ihr einmal gefragt, was ich will?"

"Noah Temel! Du wagst es, so mit uns zu reden. Deine Existenz ist für die Weiterführung unsere Unternehmens da, nichts weiter. Es ist deine Aufgabe, die Temel GmbH in der Zukunft zu leiten. Und das geht am besten mit einer starken Frau, die sich mit Finanzen und im Geschäft auskennt. Sei froh, dass ich eine für sich ausgewählt habe. Da ersparst du dir die Suche nach jemandem, der dich nur ausnutzen will."

"Ihr seid doch echt nicht mehr ganz dicht! Wir sind hier nicht in 18. Jahrhundert mit irgendwelchen Zwangsehen. Ich bin weg."

Ich stürme aus dem Raum und schnappe mir mein Gepäck. Niemand folgt mir.

Aber wo soll ich hin? Ich kenne keine anderen Menschen in diesem Kaff. Ich setze mich auf die Treppenstufen an der Auffahrt.

Ich höre, wie sich die schwere Türe hinter mir öffnet.

"Noah, du kommst sofort wieder her. Wir sind deine Erziehungsberechtigten, wir haben die Entscheidungsgewalt. Also wage es nicht uns zu widersprechen, wir haben das letzte Wort. "

Mein Vater starrt mich sturr durch seine dunkelbraunen Augen an.

Ich stehe auf und gehe neben meinem Vater zurück ins Haus. Ich schweige. Babette nimmt mir mein Gepäck ab und begleitet mich ins Obergeschoss in mein Zimmer.

Ich nicke ihr kurz zu: "Dankeschön, Babette."

Sie lächelt und verlässt den Raum. Ich schmeiße mich auf mein Bett und starte die Decke an.

Womit habe ich das verdient? Ich habe alles immer so getan, wie meine Eltern es wollten. Nie habe ich widersprochen. Habe alles hingenommen, akzeptiert. Aber dieses Mal. Da ist die Grenze erreicht.

Andererseits, habe ich keine andere Möglichkeit. Ich bin noch 16 Jahre alt. Wo soll ich hin? Zu meiner Verwandtschaft habe ich weder Kontakt noch eine Adresse.

Wahre Freunde habe ich nicht, und mein einziger Freund will nichts mehr mit mir zu tun haben.

Es klopft an meiner Zimmertüre. Meine Mutter betritt das Zimmer, lächelt mich an und setzt sich aufejne Bettkante.

"Was ist los?", frage ich sie genervt.

"Noah, mein Liebling. Weißt du, bei mir war das genauso damals. Als kenn Vater mir erzählt hat, dass ich Lars heiraten soll, war ich so sauer auf ihn. Ich war zu dem Zeitpunkt verliebt. Er hieß Tim. Seine Eltern waren getrennt, die Mutter alkoholabhängig, der Vater hat Tag und Nacht gearbeitet um die Familie zu ernähren. Als meine Eltern von meiner Beziehung zu ihm herausgefunden haben, dass ich mit ihm in einer Beziehung bin, haben sie alles daran gesetzt, uns zu trennen. Und dann haben sie es geschafft, sie haben so viele Lügen erzählt, bis irgendwann er und ich es geglaubt haben. Ein paar Monate später kam ich dann mit deinem Vater zusammen. Unsere Mission war von Anfang an klar: Die Firma weiterführen, mehr Profit machen und ein Kind bekommen, was irgendwann die Firma übernehmen kann. Ich habe ihm nicht aus Liebe geheiratet. Mein Herz ist immer noch bei Tim. Ich habe ihn geheiratet, weil es meine Pflicht ist. Und wenn dein Vater sagt, du sollst mit Michelle zusammenkommen, dann ist dies auch deine Pflicht. Er will nur das Beste für dich."

Für einen kurzen Augenblick habe ich Mitleid für sie. Ihre große Liebe wurde ihr weggenommen, stattdessen musste sie meinen Vater heiraten. Aber sie ist genauso scheinheilig wie er. Sie hat sich nicht gewehrt, nicht zu Wort gemeldet. Einfach hingenommen.

Ich lächle meine Mutter einfach nur an. Sie streichelt mir über die Wange.

"Im Nachhinein denke ich aber, dass meine Eltern die beste Entscheidung getroffen haben. Ich habe ein gutes Leben, keine Probleme, keine Sorgen. Wir haben Geld. Deswegen bin ich glücklich."

Ich schweige. Mir fehlen die Worte um zu antworten. Ich bin sprachlos. Wie kann meine Mutter mit diesem Leben zufrieden sein?

"Ich gehe wieder zu deinem Vater. Ich muss ihn beruhigen. Du hast ihn sehr verärgert, Noah."

Ich antworte ihr nicht. Ihr ganzes Verhalten ist so scheinheilig. Erst stellt sie sich in die Opferrolle. Dann gibt sie aber zu, dass alles so besser ist, wie es jetzt ist.

Meine Mutter ist zwar um Welten besser als mein Vater, aber er hat sie zu sehr beeinflusst.

Die Vorstellungen meiner Eltern sind abartig. Keine menschlichen Gefühle dürfen berücksichtigt werden. Alles was zählt, ist Geld, Macht und Einfluss. Es zählen keine menschlichen Intuition, normale Werte. Ein ganz normales Leben, eine Beziehung aus Liebe wäre eine andere Welt.

Ich bin in dieser Welt gefangen. Ich kann nicht ausbrechen.

Heimweh nach wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt