In seinem hölzernen Käfig sitzend, wurde Gruul von den holprigen Pflastersteinen in ein unruhiges Auf und Ab geschüttelt, als säße er auf dem Rücken eines wild gewordenen Trisons. Die Karawane passierte gerade eines der Eingangstore der Stadtmauer, wobei der junge Ork, der noch nie sein Stammesgebiet verlassen hatte, gar nicht mehr aus dem Staunen herauskam. Die steinernen Häuser mit ihren roten Ziegeldächern waren mit den ledernen Zelten seiner Siedlung in keinster Weise zu vergleichen. Stürme machten denen bestimmt nichts aus, überlegte Gruul. Die Stadtmauer - bestimmt dreißig Armspannen hoch und aus dicken, weitgehendst unverarbeiteten Steinblöcken errichtet - überragte die meist zweistöckigen Gebäude mit Leichtigkeit. Sie wirkte imposant und unbezwingbar, fast so als würde sie gegen alle Angriffe standhalten können. Als ob sie nicht zum Schutze der Stadt ausreichen würde, patrouillierten zusätzlich noch mehrere Wachposten in regelmäßigen Abständen an den Toren und auf den Mauern.
Während die Reisegesellschaft über die befestigte Straße, von der ständig kleine Seitengassen ausgingen, immer weiter in das Stadtinnere vordrang, beobachtete der gefangene Ork die Bürger bei ihren alltäglichen Unternehmungen. Der Gestank von Gülle und Urin, welcher seinen Weg in Gruuls Orknase gefunden hatte, schien den Spitznasen hier nichts auszumachen. Unbekümmert ging jeder seiner Arbeit nach: Frauen und ihre Töchter hingen Wäsche auf oder fegten den Bereich vor den Häusern, ein paar Buben spielten Fangen und Männer trugen Gegenstände von hier nach da oder tüftelten in halboffenen Werkstätten an irgendwelchen Sachen. Einen dieser Betriebe erkannte der Häuptlingssohn als Schmiede, einen anderen als Gerberei.
Gekleidet waren die Menschen hier kaum anders als die Weißhäuter, die er zuvor in den Dörfern gesehen hatte: für die Kleidung wurde in den meisten Fällen grober, ungefärbter Stoff oder einfaches Leder verwendet. Darin unterschieden sich die Menschen nicht sonderlich von den Orks, was den Jugendlichen irgendwie störte. Er wollte möglichst keine Gemeinsamkeiten mit diesem Volk haben, das sein Leben zerstört hatte.Etwas später passierten sie den Rand eines Marktes. Gruul beobachtete, wie die Menschen hier Metallstücke gegen Lebensmitteln austauschten. Das musste dieses Geld sein, wovon ihm seine Großmutter erzählt hatte. Ein dummes Konzept, so fand er. Wozu solche Metallscheiben gegen Waren austauschen, wenn man die Dinge auch direkt tauschen könnte? Außerdem war es sinnlos in der Wildnis: Man konnte es weder anziehen noch essen oder trinken. Zudem förderte ein solch abstraktes Konzept bestimmt nur die Gier, Faulheit und Ungleichheit in einer Gesellschaft. Er konnte die Ungerechtigkeit förmlich spüren, die dieses System hervorrufen musste. Der junge Ork würde die Waren, die er herstellte, definitiv nicht gegen solche Metallklumpen eintauschen. Da war er sich sicher.
Auf dem Markt und auch auf den Straßen und in den Gassen herrschte reges Treiben. Die Menschenmenge und das geschäftige Treiben machten ihn nervös und fühlten sich überwältigend an. Sie hatten bereits vor gut zehn Minuten die Stadt betreten und Gruul sah immer noch ein neues Haus nach dem anderen. Er fragte sich, wie viele Menschen hier wohl lebten. Die Siedlung seines Stammes galt zwar mit seinen ungefähr zweihundert Orks als eher klein, doch hier mussten bestimmt Tausende leben. So viel Ungeziefer auf einem Haufen!
So langsam war es an der Zeit, sich einen Fluchtplan zu überlegen, dachte sich der Gefangene. Er konnte die Möglichkeit nicht ignorieren, dass die Menschen ihn hier für immer festhalten wollten. Hier gab es so viele Gassen und so viele Verstecke, dass dem Ork, der weite, offene Flächen gewohnt war, beinahe schwindelig wurde! Ganz zu schweigen von dieser optimalen Lage war er viel schneller als Menschen. Würde er seine graue Haut und sein Gesicht verdecken, konnte er womöglich auch als einer seine Feinde durchgehen. Da er erst vierzehn war, war er auch noch längst nicht ausgewachsen. Gruul hatte es nie gemessen, aber er schätzte seine Größe etwa auf die eines jungen erwachsenen Menschen ein.
Für eine erfolgreiche Flucht konnte der Ork drei wirkliche Hindernisse erkennen: erstens musste er aus diesem Käfig heraus und seine Fesseln loswerden. Die Stadtmauer und dessen gute Bewachung waren die zweite Hürde. Gruul konnte zwar gut klettern, aber dies würde bestimmt auffallen. Außerdem war die Mauer dafür schon etwas zu hoch. Das dritte Hindernis war der Heimweg: Er hatte nämlich keine Ahnung, wo er war und wie er wieder nach Hause kommen würde. Seine Orientierung und sein Wissen über die Umgebung waren begrenzt. Er wusste lediglich, dass sie nach Nordwesten gereist waren.
Erstmal hieß es aber zu überleben. Überleben war das Wichtigste, bevor er sich über Fluchtpläne den Kopf zerbrach. Der junge Ork hasste unausgereifte Pläne. Alles musste wohldurchdacht und lückenlos sein. Und für jeden guten Plan benötigte es auch einen Ersatzplan. Sein jetziger Zustand erlaubte keine hastigen Entscheidungen. Sein Körper hatte sich auch noch nicht von seinen Verletzungen erholt und er bezweifelte, dass er in diesem Zustand überhaupt bis zur Stadtmauer kommen würde.
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Orkblut und Menschenherzen: Ein Ork im Haus der Menschen
FantasyAls der junge Ork Gruul in einem brutalen Überfall von Menschen gefangen genommen und als Sklave verkauft wird, beginnt seine unfreiwillige Reise in die Welt der Menschen. Tief geprägt von Rassismus und Verlust, kämpft er um seine Ehre und Freiheit...