Gruul versteckte sich hinter seinem Bett, seine Augen auf das kleine Fenster gerichtet. Angst hatte er keine, doch Vorsicht war stets vom Vorteil. Sein Körper war angespannt, bereit zu reagieren, falls Gefahr drohte. Gruul unterdrückte ein Keuchen. Sein Rücken schmerzte aufgrund seiner gebückten Haltung; die Wunden der Peitschenhiebe brannten noch immer, ein ständiger Begleiter, der ihn an seine Gefangenschaft erinnerte. Normalerweise hätte der junge Ork die Eindringlinge schon früher bemerkt, doch sein Gehör war seit dem Schlag auf seinen Kopf am Tag des Überfalls noch immer nicht zu alter Stärke zurückgekehrt. Die gedämpfte Stille machte ihn unruhig – ein dumpfes Summen in seinen Ohren, das ihn seine Umgebung weniger scharf wahrnehmen ließ.
Das dumpfe Geräusch kräftiger Tritte pochte wie ein Herzschlag durch die stille Nacht. Das Fenster war wohl seit einer Ewigkeit nicht mehr geöffnet worden. Der hölzerne Rahmen war verzogen, ein Zeugnis der Jahre, die es den Elementen ausgesetzt gewesen war. Als das Fenster nach weiteren Tritten endlich aufsprang und sich der Geruch der Eindringlinge im Raum verbreitete, entspannten sich Gruuls Muskeln und er kam aus seiner Deckung hervor.
Vier kleine Menschenkinder schlüpften durch das kleine Loch in den Dachboden. Ihre Bewegungen waren hastig, fast tollpatschig, doch ihre Augen funkelten vor Aufregung. Sie mussten wohl die Hausmauer oder einen Baum hochgeklettert sein, überlegte Gruul. War das vielleicht doch ein möglicher Fluchtweg? Sein Blick wanderte zurück zum Fenster. Vielleicht könnte er seine massige Gestalt doch irgendwie hindurchzwängen, wenn die Zeit gekommen wäre. Zwei dieser Kinder erkannte der junge Ork als die Kinder von vorhin. Die anderen zwei mussten Freunde des Jungen sein: Sie waren etwa im gleichen Alter und hingen die ganze Zeit an seinem Rockzipfel. Gruul musterte sie aufmerksam, jedes Detail speichernd, für den Fall, dass er diese Information eines Tages brauchen würde.
Neugierig musterte Gruul die kleinen Menschen, die immer noch einige Schritte entfernt von ihm am Fenster standen. Ihre Bewegungen waren nervös, doch voller Tatendrang – ein klassischer Fall von übermütigem Wagemut, dachte Gruul. War dies eine Mutprobe? Eine Mutprobe – wie oft hatte er selbst an solchen teilgenommen, in der Zeit, bevor alles in seinem Leben auf den Kopf gestellt wurde. Er erinnerte sich an die vielen dummen und gefährlichen Herausforderungen, die sie sich früher in seinem Team einander stellten. Einst musste er nachts in Kagans Zelt schlüpfen und dem schlafenden Riesen eine neue Tätowierung auf den Körper zeichnen. Gruul bekam Gänsehaut bei dem Gedanken an die Strafe, die er dafür erhalten hatte.
Gruuls Vermutung bewahrheitete sich, als der blonde Junge unter den leisen Anfeuerungsrufen seiner Freunde ein Messer hervorholte. Ein kurzes Zucken in seinen Lippen deutete ein Grinsen an – diese Kinder hatten wirklich keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten. Mut hatten diese jungen Weißhäute, musste er gestehen. Doch Mut allein konnte jemanden in den Tod führen, das wusste Gruul nur zu gut. Das Mädchen schien von der Aktion der anderen nicht begeistert zu sein; sie war wohl aus anderen Gründen mitgekommen. Ihre Augen waren wachsam, besorgt – sie hatte mehr Verstand als die anderen. Ihr Bruder bewegte sich vorsichtig in die Richtung des angeketteten Orks, und auch wenn er dabei eine entschlossene Miene aufsetzte, erkannte Gruul die Angst in seinen blauen Augen. Die Angst war immer dasselbe – Menschen, Orks, Tiere. Es war eine universelle Sprache, die Gruul nur allzu gut kannte. Orks trainierten jeden Tag und waren so ständig irgendwelchen Gefahren ausgesetzt; ein kleiner Menschenjunge mit einer solch kurzen Klinge verängstigte Gruul keineswegs. Auch wenn er sich nach außen hin kühl und unberechenbar zeigte, belustigte ihn diese Situation innerlich. Die Vorstellung, dass dieser Junge ihn wirklich verletzen könnte, war fast zu komisch, um ernst genommen zu werden. Deshalb ließ er den Jungen auch näher kommen, bis er nur noch einen Schritt entfernt war, das Messer in angreifender Position. Doch nichts geschah. Der Bub starrte auf die Spitze seiner Klinge, seine Finger zitterten leicht. Ein typisches Zeichen für jemanden, der noch nie eine Waffe verwendet, noch nie willentlich verletzt hatte.
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Orkblut und Menschenherzen: Ein Ork im Haus der Menschen
FantasyAls der junge Ork Gruul in einem brutalen Überfall von Menschen gefangen genommen und als Sklave verkauft wird, beginnt seine unfreiwillige Reise in die Welt der Menschen. Tief geprägt von Rassismus und Verlust, kämpft er um seine Ehre und Freiheit...