Kapitel 8

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Der Geruch von geschmortem Fleisch in einer Gemüsebrühe empfing das ungleiche Paar, als sie in das -- wie Gruul vermutete -- Wohnhaus seines Käufers traten. Für einen Moment fühlte sich Gruul fast heimisch. Dies war der erste Duft, den der junge Ork als angenehm empfunden hatte, seit er in diese Stadt gekommen war; er erinnerte Gruul an die Eintöpfe von Zuhause und löste dadurch ein Wirrwarr an Regungen in ihm aus. Dem Ork blieb allerdings keine Zeit, seine Gefühle genauer zu ergründen: Kaum war der Türriegel in seine Fassung gefahren, wurden die Beiden mit einem lauten Geschrei bombardiert.

Gruul konnte eine Frau als Quelle dieser keineswegs nett gemeinten Begrüßung ausmachen. Ihr schriller Tonfall ließ Gruul zusammenzucken. Sie war etwa im selben Alter wie sein Käufer, hatte langes, rotblondes Haar, welches zu einem Zopf zusammengebunden war, und hatte trotz ihres eher schmalen Körpers zwei große, pralle Brüste, auf die sogar die meisten Orkfrauen neidisch gewesen wären. Diese Beobachtung war eine kuriose Ablenkung inmitten der Anspannung. Wie das bei ihrer kleinen Körpergröße überhaupt möglich gewesen war, war Gruul ein Rätsel. Seinen Geschmack traf dieses Menschenweib allerdings nicht, weshalb er seinen Blick auch wieder auf ihr Gesicht fokussierte. Entsetzt und zornig zugleich fuhr sie den Mann -- es musste ihr Ehemann sein -- an, während sie den hölzernen Kochlöffel in ihrer Hand hin und her schwang. Dieser schluckte hörbar und fing an, sich mit beruhigenden Worten um seine Frau zu kümmern, während er Gruul alleine am Eingang zurückließ.

Es war eine riskante Tat. Gruul war nun das erste Mal komplett ohne Aufsicht; es war seine erste richtige Gelegenheit zur Flucht. Doch was brachte es ihm? Hierzubleiben verhieß bessere Aussichten, vor allem nach den Worten dieses Mannes, die den jungen Ork äußerst neugierig gemacht hatten. Der Drang, mehr über diese Menschenwelt zu erfahren, überwand seinen Fluchtinstinkt. Wären die Umstände anders gewesen, wenn dieser Überfall nur niemals stattgefunden hätte, dann hätte Gruul dieses Abenteuer genossen: Er war schon immer ein sehr wissbegieriger und neugieriger Ork gewesen, der die Grenzen seines Stammes zu überwinden versuchte. Gruul schob seine Erinnerungen beiseite; es war nicht der richtige Moment, kein spaßiger Ausflug.

Gruuls spitze Orkohren zuckten, als sie ein aufgeregtes Flüstern abseits seines breiten Blickfeldes vernahmen. Sein Jagdinstinkt wurde geweckt, seine Sinne schärften sich. Er wurde beobachtet, soviel war klar, doch seine Instinkte schlugen nicht Alarm; er konnte keine Gefahr ausmachen. Stattdessen wurde die Neugier des jungen Orks geweckt. Gruul wirbelte herum, doch seine Beobachter waren schneller. Seine scharfen Augen konnten gerade noch so erkennen, wie zwei kleine Köpfe hinter der hölzernen Wand verschwanden. Gruul wendete dem streitenden Ehepaar nun seinen kompletten Rücken zu und fixierte seinen Blick voller Interesse auf das Ende der breiten Treppe, welche links neben dem Hauseingang startete und mit einer offenen Tür im oberen Stockwerk endete. Wie ein Raubtier, das auf seine Beute wartete, ließ er seinen scharfen Blick nicht von seinem Ziel abweichen; Blinzeln kam nicht infrage.

Je länger er wartete, umso lauter und unruhiger wurden die Stimmen seiner Beobachter; sie schienen sich zu streiten. Als ob sie sich endlich von einem festen Griff befreien hätte können, stolperte plötzlich ein kleines Menschenmädchen in Gruuls Blickfeld. Neugierig und voller Faszination beobachtete er, wie dieses kleine Wesen -- es musste vielleicht halb so alt gewesen sein wie er selbst -- seine schulterlangen blonden Haare nach hinten warf, sein Kleid glatt streifte und mit selbstbewusstem Lächeln die Treppe herabstieg, dem Ork entgegen. Weit war das Mädchen allerdings nicht gekommen: ein Junge, etwa im Alter zwischen ihr und Gruul, war plötzlich hinter ihr aufgetaucht und stand nun schützend vor ihr, ein hölzernes Schwert in den Händen.

Gruul schnaubte. Der Anblick dieses jungen Menschen, der versuchte, seine Schwester mit einem Holzschwert vor einem Ork zu beschützen, amüsierte den jungen Ork. Stufe für Stufe rückte das Geschwisterpaar vor: Dem Jungen sah man seine Furcht an, auch wenn er eine kriegerische Miene aufsetzte und sich mutig als schützendes Schild breit machte. Gruul erkannte in seinen Augen den gleichen Trotz, den er selbst oft verspürt hatte. Das Mädchen hingegen war genervt vom Verhalten ihres Bruders und versuchte andauernd, ihn zu überholen. Es war ein kurioser Anblick: schützte der Bursche seine Schwester vor dem Ork oder den Ork vor seiner Schwester? Gruul konnte ein Grinsen nicht zurückhalten, was er jedoch gleich darauf wieder bereute: Der Junge zuckte beim Anblick der scharfen Orkzähne zusammen und stieß ein hilfloses Piepsen aus, was sofort die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich zog. Diese ließ von ihrem fertig aussehenden Mann los und stürmte auf die Gefahr, die ihr Heim und ihre Familie bedrohte, zu.

Orkblut und Menschenherzen: Ein Ork im Haus der MenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt