Kapitel 2

66 3 10
                                    


Den Abend verbrachte Gruul alleine auf seinem Zimmer. Zimmer war übertrieben; Orks lebten in Zelten, die sie aus dem Leder der mächtigen Trisons ihrer Region fertigten. Trisons waren beeindruckende Kreaturen, größer und massiver als gewöhnliche Bisons, mit dichtem, zweifarbigem Fell, das in einem Mix aus dunklem Braun und leuchtendem Grün schimmerte. Ihre langen, geschwungenen Hörner und die leuchtenden blauen Augen machten sie zu einem beeindruckenden Anblick.

Diese Zelte aus Trisonleder waren ein Symbol für die Stärke und Geschicklichkeit der Ork-Jäger, die es wagten, diese furchteinflößenden Tiere zu erlegen. Dass Orks ihre Unterkünfte nicht aus einem standhafteren Material wie etwa Stein oder Lehm errichteten, lag nicht etwa an einem Mangel an Baukompetenz, sondern vielmehr der Natur eines Wandervolkes geschuldet. Sie schätzten ihre Freiheit über Komfort. Die Fähigkeit, ihre Zelte schnell abzubauen und an einen neuen Ort zu ziehen, war essenziell für ihr Überleben und ihre Kultur.

In den meisten Fällen schlief eine gesamte Orkfamilie in einem Zelt. Viel Platz für Privatsphäre oder Aktivitäten im Eigenheim gab es nicht. Und da Orks nichts von Geld und Reichtum wussten oder - besser gesagt - wissen wollten (Orks teilten in der Regel alles miteinander und jeder trug zum Gemeinwohl bei), gab es auch keine Möglichkeit, sich ein größeres Zelt zu kaufen. Dafür gab es eigentlich auch gar keinen Grund: Den größten Teil des Tages verbrachten Orks im Freien, ganz egal, ob die Sonne schien, es schüttete oder schneite. Wenn man nicht gerade mit Training oder seiner zugewiesenen Aufgabe beschäftigt war, hielt man sich gemeinsam am Lagerfeuer auf, machte Musik oder spielte eines ihrer vielen Spiele.
Bei Gruul sah es allerdings anders aus. Sein Vater, Oglub, war der Häuptling ihrer Niederlassung. Somit stand ihm und seiner Familie auch ein größeres Zelt zu, welches aus mehreren Räumen bestand. Neben einem Versammlungsraum, in dem regelmäßig kleinere Besprechungen abgehalten wurden, existierten auch mehrere Schlafräume; einer davon gehörte ihm.

Als der junge Ork an diesem Nachmittag vom Training mit blutverschmiertem Gesicht heimgekehrt war, hatte sein Vater nur seinen Kopf geschüttelt. «Dass du mir ja keine Schande bereitest, wenn du ab übermorgen mit uns Erwachsenen trainierst», hatte er enttäuscht von sich gegeben. Er hatte seinen Sohn gar nicht erst fragen müssen, ob dessen Team wieder einmal verloren hatte. «Nimm dir doch endlich mal ein Beispiel an Nurbag.»
Für Gruul waren diese Worte wie ein Stich ins Herz. Nurbag, gleich alt wie Gruul, war in ausnahmslos jeder Angelegenheit besser als er. In Sachen Verstand gewann jedoch der Häuptlingssohn, worauf dieser auch besonders stolz war, auch wenn es Nurbag herzlich egal war. Dies führte zu einer tiefen Rivalität zwischen den beiden. Rivalität war vielleicht der falsche Ausdruck. Für Gruul war es ein andauernder Wettkampf, wer von ihnen der bessere war, während Nurbag es lediglich als Zeitvertreib ansah, sich über den Fähigkeitsunterschied lustig zu machen.

Gruul hatte den Rest der Standpauke seines Vaters ignoriert und war direkt auf sein Zimmer gegangen. Die Hand seiner besorgten Mutter, Dura, die sein Gesicht untersuchen wollte, hatte er wortlos beiseitegeschoben. Er wollte ihre Fürsorge nicht, er wollte stark sein.

Auf seinem Zimmer angelangt, hatte sich der schmächtige Ork bäuchlings in sein Bett fallen lassen. Das Holzgerüst mit Fell darüber knarrte aufgrund des Aufpralls. Nun, ganz alleine in seinen eigenen vier Wänden, ließ er sich den Tag noch einmal durch den Kopf gehen. Schon wieder eine Niederlage gegen Nurbag! Er war frustriert und verzweifelt. Warum war er ihm nie ebenbürtig?

Gruuls Team (Orks agierten bei solchen Übungskämpfen immer im gleichen Sechser-Team) bestand zwar aus guten Freunden und Kameraden, aber einen Sieg konnte er mit ihnen noch nie einfahren. Dafür nahmen sie die Trainingseinheiten zu wenig ernst oder waren, wie im Falle von Umug, zu tollpatschig. Schlussendlich musste Gruul die ganze Arbeit machen, wobei dies selten gut ging.

Orkblut und Menschenherzen: Ein Ork im Haus der MenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt