Ankunft

1 0 0
                                    

Obwohl ich mich direkt zur Versammlung befördern könnte, drehe ich noch eine letzte blitzschnelle Runde durch meine Wälder, besorgt, sie für eine unbestimmte Zeit alleine zu lassen. Zwar hatte Albar nur von einem Tag geredet, aber man weiß wirklich nie, wie lange politische Veranstaltungen gehen. Und natürlich vertraue ich Smirne, aber ich bin eine Glucke, was mein Gebiet angeht. Nach der Runde bin ich beruhigt und reise innerhalb von einer Sekunde zum Versammlungsort.
Ich tauche am Rand eines schlafenden Vulkans auf. Mir bleibt vor Erstaunen der Mund offen stehen. Ich habe wirklich viel in meinem Leben gesehen, aber dieser Ausblick beeindruckt mich sehr: Der Durchmesser des Vulkans ist riesig und die versteinerten schwarzen Lavawände wurden gekonnt in Tribünen verwandelt. In der Mitte befindet sich ein Podium, auf dem sich ein ebenfalls aus der Lava geschlagener Kreis aus Stühlen befindet. Hier haben die Halbgöttinnen wirklich ein architektonisches Wunderwerk vollbracht. Und als würde das nicht schon reichen, so kommt die schiere Menge an Halbgöttinnen zu dem atemberaubenden Anblick dazu.

„Ausweis", ertönt eine gelangweilte Stimme in dem Moment neben mir.

Eine glibberige lila-blaue Riesenschnecke mit fünf Augenfühlern und vier Armen steht neben mir. Ihr Gesichtsausdruck ist ebenso gelangweilt, wie ihre Stimme. Sie streckt mir eine ihrer dreifingerigen Hände hin. Darin hält sie ein Gerät aus Holz, auf dass ich meinen Ring stempeln muss. Ich hatte vergessen, wie bürokratisch diese Veranstaltungen sind. Die Riesenschnecken habe ich in den letzten paar hundert Jahren wirklich nicht vermisst.

„Äh, ja, klar", sage ich.

Meine Kette mit dem Ring ist für andere unsichtbar, also mache ich sie zunächst mit einer gemurmelten Beschwörung sichtbar und stempele dann den Ring auf die Platte.

Eine blecherne Stimme ertönt: „Geria, Halbgöttin, halb Mensch, halb Reh, Gestaltwandlung möglich, Gebiet: Rotblattwälder in Nordosteuropa."

Rotblattwälder. Ich verkneife mir ein Kommentar. So eine kindliche Bezeichnung für etwas so kompliziert wunderbar Magisches... nun ja.

„Akzeptiert", sagt die Schnecke und macht eine Geste, mit der deutlich wird, dass ich weitergehen kann.

„Danke", sage ich.

Ich komme jedoch nur ein paar Schritte weiter, dann tauch auch schon Albar vor mir auf.

„Du hast dein Versprechen gehalten."

Ich schaue verächtlich auf sie herunter, die Wut von gestern schwelt immer noch in mir.

„Als hätte ich eine Wahl gehabt."

Sie legt den Kopf leicht schief, als verstünde sie nicht recht. Doch die Genugtuung, ihr meine Schwäche auch noch zu buchstabieren, werde ich ihr nicht geben. Sie scheint nicht zu wissen, was sie sagen soll.

„Gibt es eine Sitzordnung?", frage ich kühl. Sie schüttelt den Kopf und ihre Flosse schwabbelt leicht hin und her.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Zum Glück bin ich nicht die einzige mit einer lächerlichen Urform.

„Dann suche ich mir einen guten Platz", sage ich und ohne ein weiteres Wort mache ich mich auf den Weg zum Podium.

Sie scheint den Wink mit der Eiche verstanden zu haben und fliegt ohne Grußwort an mir vorbei zu ihrem Podiumsplatz. Meine Hufe klackern irritierend laut auf dem Steinboden und ab und zu wenden sich deshalb Köpfe zu mir um. Ich suche nach bekannten Halbgöttinnen, kann aber niemanden entdecken. Gut, ich war noch nie sonderlich gesellig und habe dadurch keinen großen Bekanntenkreis. Und von denjenigen, die ich kenne, weiß ich nicht einmal, ob sie hier sind. Nach einer Weile gebe ich die Suche also auf und konzentriere mich auf meine Platzwahl. Ich habe Glück und ergattere einen Platz, von dem aus ich die Vertreterinnen auf der Bühne gut im Blick habe. Meine Sitznachbarin liegt entspannt und königlich auf den Steinstufen – es ist eine Sphinx. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Sie ist riesig. Und schön. Und riecht gut. Ich schüttele leicht den Kopf, um diese verlockenden Gedanken zu vertreiben.
Stattdessen lasse ich den Blick über die Vertreterinnen auf der Bühne schweifen. Ich sitze so nah, dass ich sogar ihre Mimik erkennen kann. Einen kurzen Augenblick bereue ich es, dass ich mir keine Kleinigkeit zu Essen mitgebracht habe; ich vermute, dass mir das das Schauspiel versüßt hätte. Das machen Menschen, wenn sie ins Theater oder Kampfaufführungen gehen und ich konnte diesem Ritual schon immer viel abgewinnen. An dem Gedanken merke ich, dass ich doch ein wenig gespannt bin, wenn nicht sogar leichte Vorfreude in meinem Magen flattert. Es ist schließlich das erste Mal seit langer Zeit, dass ich mich mal wieder unter so viele Leute wage.

„Auch eher Einzelgängerin?", fragt die Sphinx mit tiefer Stimme.

Ich drehe mich zu ihr. Ihr Blick liegt ruhig auf mir. Ihre Augen funkeln und das liegt nicht nur an der Kajalumrandung – sie sind golden. Auf ihren Lippen liegt ein leicht spöttisches Lächeln. Ihre Haare sind im typisch ägyptischen Stil zurechtgemacht. Ihre Vorderpfoten sind übereinandergelegt, die Krallen nicht ausgefahren. Ihre großen Schwingen liegen zusammengefaltet auf ihrem Rücken. Erneut verfluche ich meine Urform. Selbst als stinknormale Wölfin sähe ich imposanter aus, als...so.

„Äh", sage ich.

Etwas kratzt in meinem Hals. Schnell räuspere ich mich, um meinen Kloß im Hals loszuwerden.

„Ja. Ich ziehe die Einsamkeit meiner Wälder großen Versammlungen vor", sage ich ehrlich.

Sie nickt leicht.

„Das geht mir genauso mit meiner Wüste."

Ein Bild von orangenem Sand bis zum Horizont und gleißender Sonne im blauen Himmel erscheint vor meinen Augen. Oh. Stimmt ja. Die Telepathie der Sphingen. Dann weiß sie vermutlich schon, wie faszinierend ich sie finde. Wundervoll.

„Geria", stelle ich mich vor, um meine eigenen unangemessenen Gedanken zu übertönen.

Dann frage ich: „Was ist dein Name?"

„Ich habe viele Namen", sagt sie leise und ein paar ihrer Namen hallen durch meinen Kopf.

Luja, Akilah, Labu-A, Zarifa, Alexia, Athanasia, Eleftheria, Medea, Sofia...

„Such dir einen aus." Ihr Mund ist zu einem leicht spöttischen Grinsen verzogen.

Nur ein Name ist für mich herausgestochen und hängengeblieben. Er passt nicht zu dem, wie sie auf den ersten Eindruck wirkt. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass er zu dem passt, was sie im Innersten ist. Ihre Augen weiten sich minimal. Vor Erstaunen? Hat sie den Gedanken gerade gelesen?

„Schön, dich kennenzulernen, Labu-A", sage ich.

Sie neigt respektvoll den Kopf.

„Gleichfalls, Geria."

Sie wendet sich ab. Ich bin irgendwie erleichtert der Intensität ihrer Augen entkommen zu sein und suche gleichzeitig nach Fragen, mit denen ich das Gespräch am Laufen halten kann. Im selben Moment ertönt von vorne ein Räuspern. Die Versammlung scheint gleich zu beginnen. Ich muss aufpassen, was ich die nächsten paar Stunden denke, wenn wir hier nebeneinander sitzen bleiben. Ich kann meine Gedanken abschirmen, aber darin war ich noch nie besonders gut und Sphingen sind nun einmal besonders gut darin, in die Gedanken anderer einzutauchen.

„Keine Sorge", sagt Labu-A, ohne zu mir zu schauen, „bei solch großen Veranstaltungen verzichte ich auf diese Gabe."

„Und doch hast gerade in meinen Kopf geblickt. Du widersprichst dir", erwidere ich etwas pikiert.

Wieder dieses spöttische Lächeln.

Mit einem blitzenden Seitenblick sagt sie: „Ich war gespannt, was du über mich denkst. Kommt nicht wieder vor."

Diesmal kann ich mir das Schnauben nicht verkneifen.

Bevor ich jedoch etwas erwidern kann, beginnt eine der Vertreterinnen zu sprechen.


GeriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt