Kapitel 9: Mai 1886

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Seine Lippen drücken sich heiß gegen meine. Er öffnet leicht meinen Mund, um ihn mit seiner Zunge zu erkunden. Er lehnt sich gegen die Backsteinmauer und zieht mich fest an sich.
 Der Mann kann gut küssen. Ich bin mir zwar sicher, dass es bessere Küsser gibt, aber der hier macht seine Sache nicht komplett falsch. Als seine Finger jedoch, unter deren Nägeln noch immer der Dreck klebt, beginnen, langsam meinen Rücken runterzuwandern und dabei geschickt die Korsettverschlüsse öffnen, Schnürchen für Schnürchen, die ich alle mit viel Geduld und Aufopferung heute Morgen zusammengebunden habe, wird es mir zu viel. Er hat seine Lebenszeit nur mit seinen Küssen ein kleines bisschen ausgeweitet, aber jetzt ist das Ende gekommen. Ich spüre, wie die Lust sich in Hunger verwandelt, in ein wildes Tier, das unbedingt rohes Fleisch braucht.
 Ich gebe ihm noch ein paar leidenschaftliche Küsse, dann wandern meine Lippen seinen Hals herab. Er streckt ihn mir stöhnend entgegen, und mit einem leichten Lächeln schlage ich meine Zähne in sein Hals, dort wo das Blut am stärksten pulsiert, und trinke mit schnellen Zügen. Adern reißen um meine Augen auf und ich spüre, wie alles in mir nach dem frischen, leckeren, süßen Blut giert. Kurz schreit er auf, dann zuckt er und wird schließlich bewusstlos. Ich sauge die letzten Reste aus seinem Körper und genieße das Gefühl, wie mir die heiße Flüssigkeit durch die Kehle rinnt und mein Verlangen nach Blut wieder schmälert. Ohne Blut könnte ich mehrere Tage überleben, aber nach und nach würde mein Körper versteinern, denn das Blut von lebendigen Menschen hält den Organismus unseres toten Körpers am laufen, sorgt dafür, dass der Körper den eigentlichen Tod vergisst.
 Ich lasse die Leiche fallen und trappiere sie so, dass nicht gleich dem ersten Vorbeigehenden auffällt, dass dieser Mensch tot ist. Mit meinem Zeigefinger entferne ich die letzten Blutspuren von seinem Hals und schlecke den Finger ab. Genussvoll schließe ich die Augen. Sicher, ich hätte ihn nicht umbringen müssen. Ich hätte auch einfach die Hälfte trinken können, ihn manipulieren und wegschicken. Aber daran ... habe ich gar nicht gedacht. Ich bin einfach schon zu lange mit Damon unterwegs, als dass ich mich um die Tode von Menschen scheren würde. Das würde Stefan jetzt wahrscheinlich sagen, wenn er hier wäre.  
 Seit der Soirée vor einem Monat sind wir keine Spur weiter an ihn herangekommen. Damon hat bei seinem kleinen Abstecher damals Hinweise auf seine Anwesenheit gefunden (im Keller gab es mehrere kopflose Leichen, die wohl dorthin entsorgt werden mussten, um kein Aufsehen zu erregen), aber ihn selbst haben wir nicht gefunden. Wir wissen, dass er irgendwo in der Nähe der Urfamilie steckt. Ich weiß nicht genau, warum Damon noch wartet, was völlig untypisch für ihn ist, aber wenn selbst er es schafft, sich in Geduld zu üben, werde ich es auch schaffen. Ein paar kleine Langeweilemorde wie dieser hier sind dabei einfach nicht zu vermeiden.
 Ich richte mich auf und versuche, meine Arme zu verrenken, um mein Korsett wieder zu binden. Es ist zwar mitten in der Nacht, und ich bin in einem Viertel, das nur aus düsteren Gassen besteht, aber New Orleans schläft nie und ich möchte hier nicht als Prostetuierte gelten.
 Auf einmal höre ich, wie hinter mir jemand auf dem Boden landet. Blitzschnell drehe ich mich um und sehe, wie mehrere Vampire von den Dächern der Häuser springen und vor mir auf der Straße aufkommen. Um ihre Augen haben sich die dunklen Adern gebildet, woran ich erkennen kann, dass sie auf einen Kampf aus sind. Automatisch tritt auch in meine Augen wieder das Rot. Ich blecke die Zähne und schätze ab, wie gut meine Chancen sind lebendig aus der Sache rauszukommen. Es sind ein Dutzend Vampire, und den Atemgeräuschen auf den Dächern nach zu schließen sind das nicht alle.
 "Das war unsere Beute", knurrt der Vampir an forderster Front, der als Erstes gesprungen ist.
 Auch meiner Kehle entfährt ein Knurren. Ich habe noch nie gehört, dass Vampire ihre eigenen Menschen haben. Nicht wichtig. Keine Fragen. Es zählt nur das Überleben.
 Ein Vampir springt über seine Artgenossen hinweg auf mich zu und landet ein Stück vor mir. Ich sehe seine Reißzähne auf mich zurasen, und im letzten Moment liegt meine Hand an seinem Hals und ich breche ihm das Genick. Wie ein schlaffer Sack bricht er zusammen. Er ist nicht ganz tot, in wenigen Stunden oder sogar kürzer wird er wieder zu sich kommen. Ich schaue mich schnell um, während ein zweiter auf mich zukommt. Da, ein alter Regenschirm. Mit einem Blinzeln bin ich bei ihm und breche ihn auseinander, sodass ich das spitze Ende in der Hand halte und es dem Vampir in die Brust rammen kann. Er erstarrt, seine Haut wird aschfahl und nach seinem nächsten Atemzug ist er tot.
 Lächelnd drehe ich mich zu den anderen um. Doch statt den erwarteten angriffslustigen Vampiren sehe ich nur zuckende oder erstarrte Körper, die am Boden liegen und mein Misstrauen erwecken.
 Ich trete vorsichtig näher an den Anführer heran, der seine Hände auf eine schwer zu übersehende, blutende Stelle an seiner Brust presst, das Gesicht schmerzerfüllt verzogen. Es ist kein Trick. Sie sind wirklich fast alle tot.
 "Soll ich dir mit deinem Kleidchen helfen, Liebes?"
 Ich fahre herum und blicke direkt in die Augen von Klaus Mikaelson, dessen ganzes Gesicht mit Blut verschmiert ist so wie das eines Dreijährigen nach dem abendlichen Brei. Meine Adern treten zurück.
 Ich drehe mich um und streife meine Haare zur Seite, die nach der Kussszene und dem Kampf wie ein Vogelnest ausschauen müssen. Ich fahre mir mit der Zunge tastend die Lippen entlang, auf der Suche nach Blut. Nichts. Gut, dann schaue ich wenigstens nicht wie ein verrückter Serienkiller aus, im Gegensatz zu ihm.
 Er fängt an, mein Korsett von unten an wieder zuzubinden.
 "Danke", sage ich.
 "Du hast nichts zu danken. Normalerweise würde ich hübschen Frauen um diese Zeit das Korsett lieber von ihrem Körper reißen, als genau das Gegenteil zu tun."
 Ich muss leicht grinsen. "Nicht das. Dass du die Vampire umgebracht hast." Seine Finger halten einen Moment lang inne, als überlege er, ob er etwas tun sollte oder nicht, doch dann führt er seine Arbeit fort. "Ich meine", füge ich hinzu. "Ich hätte den Clan natürlich ohne Probleme selbst erledigen können, aber trotzdem Danke. Damit habe ich ein Kleid eingespart."
 Als er immer noch nichts sagt, drehe ich mich zu ihm um und blicke ihn fragend an. "Was ist?", will ich gerade sagen, aber sehe kurz noch den nachdenklichen Ausdruck, der auf seinem Gesicht gelegen hat. Seine Stirn war in Falten gezogen gewesen, und sein Mund zu einer dünnen Linie. Mit einer harschen Bewegung dreht er mich wieder um und bindet weiter.
 "Jeder Clan in New Orleans hat sein eigenes Revier", sagt er schließlich doch noch. Er klingt irgendwie anders als auf der Soirée, besorgt. "Du hast in dem Revier dieses Clanes gejagt, und somit hast du ihnen eine Nahrungsquelle gestohlen. Vielleicht haben sie dich auch für einen aus den anderen Clans gehalten. Die sind alle ziemlich verfeindet." Er ist an meinem Nacken angekommen und jetzt mit den Knöpfen meines Kleides beschäftigt. "Himmel, ich verstehe nicht, warum Frauen diese Kleider auch mitten in der Nacht anziehen. Würde ein einfacher Überzug nicht auch reichen?" Jetzt höre ich wieder den Ton in seiner Stimme, der gefehlt hat. Eine Mischung aus Spott und Humor. Und unüberhörbares Selbstbewusstsein.
 "Ich habe meinen Menschen verführt", erkläre ich. "So ist die Zeit vor dem Essen gleich schon viel amüsanter."
 Klaus schnaubt amüsiert. "Das kann ich nun wiederum verstehen."
 Er nimmt meine Schultern und dreht mich zu sich um. Mit einem Funkeln in den Augen grinst er mich an. "Lust auf noch mehr Spaß?"
 Ich lächle leicht. "Seit wann erlauben es die Förmlichkeiten, dass wir uns dutzen?"
 "Seit ich dir das Leben gerettet habe", erwiedert er.
 Ich lache. "Pah! Das kann jeder behaupten." Ich hebe meinen Umhang auf, den ich wohl irgendwann auf dem Weg von der Straße bis zur Wand verloren habe und schlinge ihn mir um die Schultern. Bevor ich um die Ecke verschwinde, bleibe ich noch kurz stehen und werfe einen koketten Blick über die Schultern zu dem attraktiven Urvampir, der lässig die Arme verschränkt an der Wand lehnt und mich beobachtet. "Noch eine schöne Nacht, Mr. Mikaelson."
 Er lächelt und hebt seinen Zylinder, der ein paar Blutflecken abbekommen hat. "Dasselbe wünsche ich Ihnen auch, Miss Salvatore."

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