Kapitel 27: Muttergefühle

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Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich bei meiner Ankunft in Irland eine Art Heimatsgefühl empfinden würde, nach dem Motto: Hach, ist das herrlich, wieder zu Hause zu sein; dort ist es immer  noch am schönsten! Seltsamerweise habe ich herausgefunden, dass dem nicht so ist. Die grünen Wiesen außerhalb der Stadt fühlen sich zwar vertraut an, wecken aber kein Glücksgefühl. Ebenso wenig tut es der irische Akzent oder die nach Wiesen duftende Luft.
 Ich verspüre auch keinen Heimatsstolz und brenne darauf, Niklaus und Stefan alles zu zeigen und die ausführlichsten Erklärungen zu lokalen Besonderheiten zu geben.
 Es ist einfach eine Umgebung, an deren Existenz ich mich gewöhnt und akzeptiert habe, dass ich dort wohl wohne.
 "Es gibt noch einige Steinkreise in Irland aus der Zeit der Kelten", erzähle ich, während wir durch das Dörfchen Cootehill spazieren. "Die meisten sind verlassen, aber ein paar sind heute noch pulsierende Zentren der Magie. Oder so." Ich will nicht wie ein Experte auf dem Gebiet Hexenforschung klingen; die eloquenten Hexen haben mir das und noch vieles mehr während meines 'Besuches' bei ihnen erzählt. "Einige Kilometer südlich von hier befindet sich der Steinkreis, den die irischen Hexen für ihre Rituale nutzen. Es gibt dort ein paar unterirdische Gänge, in denen sie Damon wahrscheinlich festhalten."
 Die Mittagssonne lockt viele Menschen aus ihren Häusern. Die Cafés und Eisdielen sind überfüllt. Ich habe mich bei Stefan eingehakt; Klaus bewacht ihn von der anderen Seite. Auf dem Weg hierher hat mein Bruder immer wieder nach Lexi gefragt - leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wo sie sich aufhält. Hoffentlich weiß Damon es. Es wird Zeit, den Ripper aus Stefan herauszutreiben, damit er endlich wieder er selbst sein kann.
 "Wir warten am besten bis Sonnenuntergang", beschließt Klaus. "Vielleicht überraschen wir sie ja."
 Ich schnaube. "Ja, bei einem ihrer allnächtlichen Ritualen bestimmt."
 "Die Frage ist immer noch folgende: Was wollen die Hexen mit diesem Ring? Er bildet die Schutzwand nur um den Träger, was sollte also ein ganzer Zirkel davon haben?"
 "Mal überlegen: Wer könnte einen Ring gebrauchen, der gegen körperliche wie geistliche Angriffe immun macht?", erwidere ich ironisch.
 "Vielleicht ist es auch gar nicht das", meldet sich auf einmal Stefan zu Wort. Ich sehe ihn erstaunt an. Dass er etwas zu unserem Gespräch beitragen würde, habe ich am wenigsten erwartet. "Vielleicht brauchen sie ihn für einen Zauber. Er ist doch ein magisches Artefakt, oder nicht?"
 Klaus nickt nachdenklich. "Das könnte sein. Für einen sehr mächtigen Zauber."  
 Frustriert seufze ich auf. "Das hat doch keinen Sinn. Wir wissen nicht, wofür die Hexen den Ring brauchen, aber das ist auch egal, oder? Klaus, willst du uns in deinen Superplan endlich einweihen?"
 "Jetzt noch nicht."
 Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, spare mir aber die Worte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Klaus ist schizophren. Zu oft wechselt er von dem freundlichen, aber sarkastischen Nik in den psychopathischen Klaus, nur um in den nervtötenden Niklaus zu verfallen. Es ist doch wirklich zum Verrücktwerden!
 Ich beschließe, Stefan in die menschliche Welt einzuweihen, indem ich uns Eis kaufe. Nik nimmt mir den Eisbecher misstrauisch aus der Hand. Riecht daran.
 Ich muss lachen. "Eis hat keinen Geruch. Oder denkst du, ich will dich vergiften? "
 "Nicht du, aber vielleicht jemand anderes." Er wirft einen weiteren misstrauischen Blick in Richtung Theke. "Die Mikaelsons haben Feinde auf der ganzen Welt."
 Seine Sätze klingen hier, bei irischem Sonnenschein, umgeben von Touristen, einfältig und lächerlich. Ich verdrehe die Augen und schiebe mir einen Löffel Himbeereis in den Mund, während ich Stefan beobachte. Sicher, es ist kein Blut im Becher, aber das ist noch lange kein Grund, ihn in den Händen zu halten, als wäre er eine tote Ratte.
 "Ihr seid solche Kinder", murmle mich und will mich ein Stück entfernen.
 Nik hält mich sofort an der Schulter fest. "Warte. Wohin gehst du?"
 "Keine Angst, ich habe nur vorgehabt, zu dem Brunnen da zu gehen und mich in ihm zu ertränken."
 Seine Augen weiten sich. Als ich in Lachen ausbreche, verengen sie sich zu dünnen Schlitzen.
 "Nik", sage ich und lege meine Hand an seine Wange. Gespannt beobachte ich seine Reaktion auf die Anrede. Er zeigt keine. "Du bist zu paraniod."
 Ich wage es, ihm einen Kuss auf die Nasenspitze zu geben, bevor ich mich aus seinem Griff löse und über den kleinen Platz schlendere.
 Die Sonnenstrahlen kitzeln angenehm mein Gesicht und wärmen mich zudem noch. Wir haben den größten Teil unseres Aufenthaltes in Cootehill im Schatten verbracht, da Klaus Angst hat, dass Stefan von zu viel Sonnenlicht durchdreht. 
 Erneut denke ich an die Flugzeugszene. Mit einem einzigen Kuss hat Nik sich total verändert, sodass ich ihn nun berühren darf und er sich um mich sorgt. Was geht nur in diesem Vampir vor?
 Ich schaue einer Gruppe von Kindern zu, wie sie lachend fangen spielen. Ich schätze sie zwischen sechs und acht. Die Eltern essen am Brunnenbecken zu Mittag und unterhalten sich dabei. Niemand scheint ein Auge auf die Kinder zu haben.
 Gerade werfe ich den leeren Eisbecher in einen Mülleimer, als ich hinter mir ein Knirschen höre, gefolgt von einem Weinen. Ich drehe mich um. Ein Kind liegt am Boden und hält sich das Knie. Es weint. Ich schaue zu den Eltern hinüber, die jedoch nichts mitbekommen haben.
 Ich knie mich vor das Mädchen und helfe ihr, sich aufzusetzen.
 "Mein Knie", jammert sie.
 Behutsam nehme ich ihre Hände von der Stelle. Die Strumpfhose ist aufgescheuert und durchsetzt mit Blut und kleinen Steinchen.
 Ich streiche ihr durchs Haar und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. "Das wird schon wieder", beruhige ich sie.
 Aus meiner Tasche hole ich ein Taschentuch und tränke es mit einem Schuss Wasser. Während ich damit die Wunde auswasche, fange ich ein Gespräch an, um sie von den Schmerzen abzulenken.
 "Wie heißt du denn?", erkundige ich mich.
 "Katie", schluchzt sie.
 Kurz halte ich inne, um ihr die Tränen abzuwischen, bevor ich mit meiner Arbeit fortsetze.
"Du musst nicht weinen, Katie. Die Haut ist nur wund. In ein paar Tagen siehst du davon überhaupt nichts mehr." Ich werfe das blutige Taschentuch in den nicht weit entfernten Mülleimer und hieve Katie hoch. "Ich heiße Chloe. Ist deine Mutter hier?"
 Katie nickt, schnieft noch einmal und führt mich zu dem Brunnen. Wie eine Selbstverständlichkeit nimmt sie dabei meine Hand.
 Wir steuern auf eine blonde Frau zu, die sich gerade ein Stück Apfel in den Mund schiebt. Bei dem Anblick ihrer Tochter werden ihre Augen groß. Sie spingt auf und kniet sich vor sie. Schnell lasse ich Katies Hand los.
 "Süße, was ist denn mit dir passiert?" Sie beäugt das Knie, auf dem nur noch ein paar Kratzer zu sehen sind.
 "Ich bin hingefallen, aber Chloe hat mich verarztet."
 Als die Frau sich mir zuwendet, lächle ich freundlich. "Vielen Dank", sagt sie.
 "Kein Problem", erwidere ich. "Hab ich gern gemacht." Fast wäre ich Katie zum Abschied noch einmal durch die Haare gefahren, doch dann fällt mir wieder ein, dass sie jetzt bei ihrer Mutter ist. "Auf Wiedersehen", sage ich.
 Nik hat mich natürlich die ganze Zeit über beobachtet - wie hätte es anders sein können.
 "Bist du plötzlich zur Samariterin geworden?", kommt es von ihm, kaum dass ich wieder zu ihm und Stefan gestoßen bin.
 "Ich habe dem kleinen Mädchen geholfen." Ausnahmsweiße spielt in meinen Worten keine Ironie mit. Die Begegnung mit Katie hat in mir ein mulmiges Gefühl ausgelöst. Eine Erinnung. In den letzten Jahren als Mensch habe ich nichts mit Kindern zu tun gehabt, noch weniger nach meiner Vertreibung aus New Orleans, als ich meine Menschlichkeit abgeschaltet habe. Dieses neu erweckte Gefühl ist mir ganz und gar unbekannt.
 Das heißt, ganz unbekannt ist es mir doch nicht. Diese Art von Fürsorge habe ich schon einmal empfunden, vor langer Zeit, wenn auch nur kurz.
 Nik scheint es auch aufgefallen zu sein. "Sie erinnert dich an sie, oder nicht?", fragt er.
 Ich zucke mit den Schultern, um provozierende Worte zu vermeiden, denn egal, was ich sage, Nik wird auf dieses Thema nie gut reagieren.
 "Du hättest das, was die Mutter dort drüben hat, auch haben können." Ich folge seinem Blick und stelle fest, dass sie auf der blonden Frau liegt, die Katie gerade ein Sandwich in die Hand drückt. Ein paar Freundinnen haben sich um das kleine Mädchen gescharrt und plappern auf sie ein.
 "Was reden sie?", erkundige ich mich.
 "Die Braunhaarige hat gerade gefragt, wie es ihr geht. Jetzt schlägt die Kleinere da rechts vor, dass sie nach dem Essen zur Eisdiele gehen können."
 Ich seufze, gehe aber nicht weiter darauf ein.
 Diese Art der Zuneigung habe ich automatisch zugelassen, als ich dem kleinen Mädchen geholfen habe. Nik hat Recht, Katie erinnert mich an jemanden. Jemanden, dessen Leben und Tod ich selbst verschuldet habe.
 Freya.



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