"Geht's dir nicht gut? Du bist auf einmal so blass." fragte mich Lucy, nachdem wir die erste polizeiliche Videoaufnahme ansahen.
Ich schüttelte den Kopf, da mir unwohl wurde, durch die Nähe sowie wegen der Aufnahme. Bei dem Video handelt es sich um eine Aufnahme von einem Parkplatz. Das Opfer wollte gerade in ihr Auto einsteigen, als der sogenannte Täter sie aufhielt. Man konnte nur durch die Körpersprache beider Personen erkennen, dass sie gerade in einem Gespräch waren. Die Qualität der Kamera war relativ schlecht und es war Nacht bei dem Geschehen, sodass alles in schwarz weiß gehalten wurde. Die beiden Personen stiegen in das Auto ein. Der Mann nahm auf der Beifahrerseite Platz. Für mich als Laie, sah es so aus, als hätte der Mann um eine Mitfahrgelegenheit gebeten. Die beiden mussten sich aus meiner Sicht kennen. Ob sie befreundet waren, war für mich nicht ganz ersichtlich.
Die weitere Aufnahme, die ich nicht mehr angesehen habe, spielte sich an einer Bushaltestelle außerorts ab. Dort wurde zuletzt das Opfer gesichtet.
"Entschuldige mich, ich muss kurz auf Toilette." Ich schob mich bei der Anwältin vorbei und ging zügig aus ihrem Büro. Nachdem ich hinter mir die Tür geschlossen habe, rannte ich schon fast die Treppen runter um noch rechtzeitig zur Toilette zu kommen und mich zu übergeben. Ich hatte seltenst mit Übelkeit zu kämpfen, weshalb ich es auf den gestrigen Abend schob. Ich konnte mir sicherlich nichts eingefangen haben.
Ich wusch mir gerade meine Hände, als Lucy zur Tür reinkam. "Geht's dir gut? Du warst so schnell weg." Sie fragte mich dies schon zum zweiten Mal. Am liebsten hätte ich ihr hingeschmissen, wie scheiße es mir manchmal in ihrer Nähe geht, aber dann würde sie denken, dass ich völlig durchdrehe.
"Nein, ich denke der gestrige Abend hängt mir noch nach."
"Kann ich verstehen. Am besten du fährst jetzt schon heim und ruhst dich aus." Als sie das sagte, strich sie mir leicht den Oberarm runter und stoppte an meinem Ellbogen. Mal wieder fingen meine Gedanken an zu rasen und mir wurde erneut schlecht, sodass ich die Kabinentür der Toilette aufriss und mich nochmals übergab. Lucy kam sofort zu mir und hielt mir die Haare zurück. Mit ihrer freien Hand bildete sie Kreise auf meinem Rücken.
Als mein kompletter Mageninhalt draußen war sagte sie in einem bestimmenden, leicht strengen Ton, dass mich jemand heimfahren müsse, da sie nicht davon ausgeht, dass ich es allein nach Hause schaffen werde in meinem Zustand.
"Ich geht schon. Ich geh aber zuerst zu Anne und gebe ihr Bescheid, dass ich jetzt heimfahre. Sie hat bestimmt für mich noch einiges an Arbeit."
"Jaja, ich gebe ihr Bescheid und du packst dein Zeug schon mal. Soll ich dich nach Hause fahren?"
"Ne, ich fahr selbst. Sonst hab ich keine Möglichkeit, morgen in die Arbeit zukommen, wenn mich schon wieder jemand fährt." Sie sah mich fragend an.
"Mein Bike und mein Auto stehen beide auf dem Parkplatz und mich wird keiner von meinen Geschwistern oder meine Eltern in die Arbeit fahren."
"Ach so, ja stimmt. Aber dann fahr ich dich heim und nimm dich morgen mit zur Arbeit. Du wohnst nicht all zu weit weg, also ist es für mich kein Problem. Und jetzt keine Wiedereden mehr!"
Das kann was werden. Ich musste somit die Heimfahrt und morgen die Hinfahrt zur Arbeit in ihrem Auto überstehen. Ich hoffe, dass ich mich morgen wieder beruhigt habe.
"Okey, dann pack ich schnell meine Sachen zusammen."
Während ich zu meinem Schreibtisch lief und zusammenpackte ist Lucy zu meiner anderen Chefin gegangen, um die erfreuliche Botschaft zu überbringen, dass ich jetzt schon nach Hause gehe.
Nikki kam zu mir rüber und wollte natürlich wissen, was los ist. Ich erzählte ihr die Kurzfassung, da jeden Moment Frau Rabe kommen kann und wir beide fahren.
"Wieso muss du mich jetzt verlassen. Du hättest sicher noch die zwei Stunden durchhalten können."
"Sag das mal deiner neuen Freundin. Sie wollte, dass ich nach Hause fahre und zwar umgehend." Als ich das sagte, kam auch schon Lucy, um mich abzuholen.
"Wieso darf Charlie jetzt schon nach Hause? Ich finde, dass das gar nicht geht." meinte sie zum Spaß an Lucy gewandt.
„Ich denke nicht, dass du Lust hast, den Mageninhalt deiner Kollegin aufzuwischen."
„Was? Charlie, das hast du nicht gesagt." Sie sah mich beleidigt an. „Darüber werden wir noch reden."
„Das könnt ihr dann machen, wenn Charlie wieder fit und in der Arbeit ist." meinte Lucy trocken.
Mir kam es gerade vor, als hätte Lucy gerade wieder eine Mauer hochgefahren. Sie war auf einmal so launisch, aber vielleicht kam es mir nur so vor.
Sie drehte sich um und ging vor ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich dachte mir nur, dass sie oben etwas vergessen hat und daher nichts sagte. Sie blieb aber an der Tür stehen und meinte mit kräftiger Stimme „Kommst du jetzt auch mal!"
Ich verabschiedete mich schnell bei Nikki und verdrehte bei dem Kommentar der Vorgesetzten nur die Augen.
Jetzt musste ich auch noch mit einer schlecht gelaunten Lucy heimfahren, bei der ich nicht mal wusste, was der genaue Auslöser ihrer Laune war. War es das Gesagte von Nikki? Aber eigentlich hat sie lediglich gemeint, dass wir darüber nochmal sprechen werden. Vielleicht hatte die Frau einfach nur Stimmungsschwankungen.
Sie stand bereits an ihrem Auto, als ich am Parkplatz ankam. Wie schnell war denn die Frau bitte? Sie sah kurz auf und setzte sich dann ins Auto. Das wird die unangenehmste Fahrt meines Lebens. Weshalb musste sie mich überhaupt fahren, wenn sie von mir genervt war. Wer tat sich das schon freiwillig an.
Lucy würdigte mich keines Blickes als ich mich neben sie auf den Beifahrersitz setzte. Die Fahrt war tatsächlich die schlimmste und unangenehmste aller Fahrten. Sie blickte durchgehend gerade aus. Als wir bei mir ankamen und überlegte, ob ich noch etwas bestimmtes zu ihr sagen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich öffnete die Tür und warf ihr beim aussteigen nur kurz ein Danke fürs Fahren und bis morgen hin. Sie blickte weiterhin gerade aus und erwiderte nichts. Mal sehen, ob sie mich morgen überhaupt zur Arbeit mitnahm. Ich hatte eine starke Befürchtung, dass sie es absichtlich unterlässt und es als vergessen darstellte, wenn ich sie drauf ansprach. Unsere Handynummern hatten wir bisher noch nicht ausgetauscht.
Als ich die Tür aufsperrte war alles leise im Haus. Meine Eltern waren wahrscheinlich noch in der Firma und meine Brüder war vielleicht mit Freuden unterwegs.
Da ich Hunger hatte, ging ich in die Küche und machte mir schnell ein Sandwich. Sollte bis morgen zum Frühstück reichen. Ich aß nicht besonders viel.
In meinem Zimmer herrschte das Chaos. Meine Bücher für meine Fortbildung lagen auf zum Teil auf dem Boden sowie meine Skripte. Zum Aufräumen oder Lernen hatte ich wenig Lust. Ich nahm mein Handy und schrieb meinem besten Freund, von dem jetzt meine Kollegen meinten, dass ich Interesse hatte, was aber nicht stimmte.
Meinem besten Freund sah ich zuletzt vor fast zwei Wochen. Es lag aber nicht an ihm sondern an mir. Ich war eine ziemlich schlechte beste Freundin. Ich nahm mir zu wenig Zeit für ihn und überhaupt für sozialen Kontakt und saß meist nur zu Hause um zu lernen.
Leon, so hieß mein Kumpel, schrieb auf meine Nachricht sofort zurück und wir machten sofort eine Uhrzeit für unser Treffen aus. Er hatte meistens immer Zeit für mich. Bei ihm konnte ich mich immer über alles mögliche aufregen und ausheulen, er hatte den besten Rat.
Bei Leon zu Hause angekommen erzählte ich ihm sofort alles von der neuen Arbeit, außer, dass ich meine neue Anwältin gut fand. Die Information ließ ich aus, da ich nie über meine Gefühle sprach und immer alles in mich hinein fraß. Bislang hatte ich auch keine Probleme damit.
Gegen Mitternacht ging ich nach Hause. Es tat gut mit Leon über meine Probleme zu reden. Er selbst war Abteilungsleiter in einer größeren Firma und hatte auch mit irgendwelchen Idioten zu kämpfen, sodass er mich auch um Rat bat und manchmal konnte ich sogar helfen.
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Am nächstens morgen stand ich früher auf als normalerweise. Das Gefühl ging nicht weg, dass mich Lucy nicht abholen wird.
Es waren bereits 25 Minuten vergangen, aber meine Vorgesetzte erschien immer noch nicht und so langsam kam die Panik bei mir auf.
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Brief an das Leben
RandomWenn das Leben einmal perfekt läuft, braucht es manchmal nur eine einzige Person, die es komplett durcheinander bringt. Charlotte ist 21 Jahre. Hat wohlhabende Eltern und zwei Geschwister. Vor zwei Jahren hat sie ihre Ausbildung in einer Kanzlei mit...