Mit einem leisen Seufzen trat ich hinaus auf den Balkon, die Hände um das Buch geschlungen, mit dem ich mich beschäftigten wollte. Zum Glück war der heiße Tag, jetzt, wo es Abend war, etwas abgekühlt und es ließ sich draußen gut aushalten.
Ein großer Teil meines Kurses hatte sich nach dem Essen in die Stadt verabschiedet, während einige von den Mädchen zurückgeblieben waren um sich ruhigeren Abendaktivitäten zu widmen. Als mich die angenehme Frische der heraufziehenden Nacht empfing, hörte ich eine leise Stimme am anderen Ende des langgezogenen Balkons.
Ich spähte hinüber und erkannte Lili, eine dunkelhaarige junge Frau, die ich schon seit der Mittelstufe kannte.
Damals war sie 15 und ich gerade am Anfang meiner beruflichen Karriere gewesen. Lili und ich waren von Anfang an gut miteinander ausgekommen, während ihre beste Freundin Katharina sich gerne einen Spaß daraus machte, mir gegenüber ein wenig die Grenzen auszutesten.Lili schien angestrengt und hielt ihr Handy am Ohr, bevor sie einen Moment später mit ein paar kurzen Worten das Gespräch beendete und auflegte. Ich hörte noch ein leises Tuten. Scheinbar hatte Lili mich noch nicht bemerkt und ich zögerte, auf sie zuzugehen.
Sie kramte in ihrer Hosentasche und zog ein Päckchen Zigaretten hervor, woraufhin ich mich doch in Bewegung setzte.
"Ich wusste garnicht, dass du rauchst", rutschte es mir heraus, während ich die letzten paar Meter zwischen meiner Schülerin und mir mit großen Schritten überbrückte. Lili sah einigermaßen erschrocken auf, entspannte sich jedoch schnell wieder, als sie mich erkannte.
Sie lächelte mich schüchtern an, im nächsten Moment hielt sie mir die Schachtel entgegen. Bestimmt hatte sie mich schon das ein oder andere Mal in der Raucherecke der Schule gesehen. Zwar versuchte ich, mich im Alltag von Zigaretten fernzuhalten, doch gelegentlich ließ es sich nicht vermeiden. Besonders, wenn mich meine Kollegen mal wieder zur Weißglut getrieben hatten mit ihrer Missgunst und ihrer Abneigung ihren Schutzbefohlenen gegenüber.
"Wenn man viel Zeit mit Katharina verbringt, passiert das irgendwann einfach so", lautete ihre Antwort. Lili sah mich einen Moment zu lange an und ich meinte, in ihren Augen wieder einmal ein verräterisches Blitzen zu sehen.
Lili mochte mich. Zumindest hoffte ich das. Ihr mir gegenüber häufig rätselhaftes Verhalten konnte meiner Meinung nach nur aus einer tiefen Zuneigung, oder aber auch aus einer tiefen Abneigung heraus entstehen. Und, weil die meisten meiner Schüler mich mochten, hatte ich mich dafür entschieden, auch bei Lili einfach von Ersterem auszugehen.
"Katharina also mal wieder", grinste ich und zog mir vorsichtig eine Zigarette aus der Schachtel, die das Mädchen mir noch immer hinhielt. Auch sie grinste vorsichtig, während ich mich neben ihr an das Geländer des Balkons lehnte.
Lili trug eine kurze Shorts und ein viel zu knappes Top, welches ihr im Schulalltag vermutlich eine Verwarnung eingebracht hätte. Ich beobachtete sie verstohlen, während sie schweigend ihre Zigarette rauchte. Sie war inzwischen größer als ich, was sich seltsam anfühlte. Ihre dunklen Haare flogen ihr im leichten Wind immer wieder ins Gesicht, was sie jedoch nicht zu stören schien. Ihre Augen blinzelten mich an, wenn sie meinen Blick traf. Ihre Wangen röteten sich kaum merklich.
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Im Eingangsbereich der Stadthalle traf ich auf Katharina und Lili, die mich von der gegenüberliegenden Seite, wo sie es sich scheinbar an einem Geländer bequem gemacht hatten, anstarrten.
Katharina trug ein schlichtes blaues Kleid, Lili die zusammengehörende Hose und Weste eines dunkelgrünen Anzugs und ein weißes Hemd. Sie sah gut aus und furchtbar erwachsen und sie sah mich mit großen Augen an.
Zuletzt gesehen hatte ich sie bei einem Kurstreffen kurz nach der letzten schriftlichen Prüfung, welches mein Leistungskurs in einer Kneipe abhalten wollte. Lili hatte erschöpft und müde ausgesehen, sich kaum mit ihren Mitschülern unterhalten, jetzt jedoch schien sie zu strahlen.
Ich zwinkerte den beiden kurz zu, bevor ich mich wieder zu Nikolas, der mir durch die Tür gefolgt war, umdrehte.
Er stieß mich in die Seite, als er begriff, wem mein Blick galt. Dann pfiff er leise.
„Nicht jetzt schon mit ihnen flirten", ermahnte er mich breit grinsend, „Lass dir noch ein paar Wochen Zeit".
Ich schüttelte nur den Kopf, musste jedoch ebenfalls grinsen.Später am Abend war Lili betrunken. Sehr betrunken. Ich fand sie und Katharina in der Raucherecke am Seiteneingang wieder und unterhielt mich leise mit ihnen, wobei Lili mir gegenüber eher verschlossen wirkte.
Sie sah aus, als hätte sie geweint.Den ganzen Abend über war sie still und in sich zurückgezogen, obwohl sich der Alkohol bei ihr bemerkbar machte.
Sie war betrunken und schön und sie küsste ein dunkelblondes Mädchen in einem der Gänge im Untergeschoss, was mir das Herz in die Hose rutschen ließ.-
Zwei Jahre später traf ich auf dem Abiball ihres jüngeren Bruders auf Lili, die inzwischen etwa 20 sein musste.
Ich sah die kleine Familie bereits im Eingangsbereich ebenjener Stadthalle und stellte fest, dass Lili ihr eigenes Abiball-Outfit recycelt hatte, um es nun auch zu Lasses Abschluss tragen zu können.Lasse, sein Vater und Lili traten gemeinsam auf und waren dabei unverkennbar gelassen, beliebt und gutaussehend.
Während Lili sich mit einigen alten Lehrkräften fröhlich unterhielt, bestellte ich mir im Beisein meines Freundes und Kollegen Nikolas einen ersten Wein.Nikolas stand mir den ersten Teil des Abends über bei. Er machte sich einen Spaß daraus, dass Lili mir Blicke zuwarf. Noch mehr daraus, dass ich sie erwiderte.
Spielerisch malte er sich aus, wie wir beide eine leidenschaftliche Affäre vortäuschen würden, um Lili eifersüchtig zu machen.Ich schüttelte nur ergeben den Kopf.
Nur wenige Minuten, nachdem Nik sich mit dem Kommentar ich solle mich meiner kleinen Schwachstelle nicht zu sehr an den Hals werfen von mir verabschiedet hatte, traf ich Lili in der Raucherecke.
Zu diesem Zeitpunkt war ich schon einigermaßen betrunken und tat genau das, wovor Nik mich gewarnt hatte: ich warf mich meiner kleinen Schwachstelle an den Hals. Und sie fing mich regelrecht auf.Immer wieder trafen wir wie zufällig aufeinander, obwohl ich natürlich wusste, dass Lili mich beobachtete.
Ihre Augen ruhten auf mir, wenn ich mich mit anderen unterhielt, wenn ich auf der Tanzfläche war, und, wenn ich wieder ihren Blick suchte.Wenn ich mich Richtung Ausgang bewegte, folgte sie mir unauffällig und brachte meist schon ein neues Getränk für mich mit.
Sie füllte mich ab. Vermutlich nicht absichtlich, doch sie tat es.Schlussendlich fand ich mich sehr, sehr betrunken, im Kastenwagen ihres Vaters wieder. Lili saß am Steuer und fuhr unbeirrt durch die Nacht. Mittlerweile war es kurz nach vier Uhr. Meine Adresse hatte sie in ihr Handy-Navi eingegeben.
Ich beobachtete sie von der Seite und stellte wieder einmal fest, wie attraktiv die junge Frau war. Ihr Gesicht war in den letzten Jahren kantiger, entschlossener geworden, dennoch hatte ihr Ausdruck nichts von seiner freundlichen Offenheit eingebüßt.Ihre grünen Augen blitzten verspielt und wenn sie sprach, triefte ihre Stimme häufig vor Ironie und Witz, dabei war sie jedoch niemals plump.
Als wir angekommen waren blieb ich noch für einen kurzen Augenblick neben Lili sitzen. Ich atmete ihren Duft ein, der sich im ganzen Wagen verteilt hatte. Kurz zögerte ich, dann öffnete ich die Tür. Ich wollte nicht, dass dieser Abend, die Zeit, die ich mit Lili verbringen konnte, endete.Ich nahm ihre Hand von Schalthebel, sie sah mich für einige Sekunden verwirrt an. Dann legte ich sanft meine Lippen auf ihren warmen Handrücken, bevor ich die Autotür hinter mir schloss und die wenigen Schritte zur Haustür ging.
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Parallelen
RomanceSara ist frisch geschieden, Mutter von Zwillingsmädchen, Lehrerin am städtischen Gymnasium. Eigentlich ist sie fest verankert im Leben. Eigentlich.