„Okay, Leute", begann ich meine kurze Ansage, „Ihr könnt jetzt erstmal in Ruhe eure Zimmer beziehen. Dann gibt es Mittagessen um 12.30 Uhr und danach unternehmen wir einen ersten Spaziergang in die Stadt!".
„Direkt nach dem Mittagessen?", fragte mich Max, einer der Jungs aus der ersten Reihe, von der Seite.
„Direkt nach dem Mittagessen. Also am besten seid ihr dann schon soweit fertig".Nachdem unsere Schüler sich nach einigen weiteren organisatorischen Fragen auf ihre Zimmer - die Einteilung hatten wir zum Glück schon vorher besprochen - verzogen, stand nur noch Nikolas mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen vor mir.
„So, Hase, hier ist auch noch dein Schlüssel", sagte ich grinsend und tätschelte ihm über die Schulter.
Er bedankte sich, dann nahm er mir die Reisetasche, die ich bisher über meiner Schulter getragen hatte, ab. Obwohl ich protestierte, setzte er sich in Bewegung und ich folgte ihm die Treppen hinauf bis in den zweiten Stock.
Nik war einfach ein Gentleman und konnte natürlich nicht davon absehen, so banale Dinge wie meine Tasche zu tragen zu übernehmen.Die Tatsache, dass er seit kurzem verheiratet war, tat dem keinen Abbruch. Er war durch und durch bedacht und nahm alle seine Mitmenschen genauer war, als ich es von irgendjemand anderem behaupten konnte.
Deshalb war Nik auch der erste gewesen, dem ich von den Problemen mit Mark erzählt hatte. Okay, Probleme war vielleicht etwas zu dramatisch formuliert. Von den Unstimmigkeiten.
Eines Tages, nachdem er eine geflüsterte Diskussion zwischen meinem damaligen Mann und mir im Hausflur mitbekommen hatte, hatte Nik mich zur Seite genommen und mir ins Gesicht gesagt, dass wir uns scheiden lassen sollten.
Ich hatte ihn angefahren, drei Tage nicht mit ihm gesprochen und war ihm schließlich an Tag 4 weinend in die Arme gefallen. Weil er Recht gehabt hatte. Wie eigentlich immer.
Marlene, die Frau, mit der Nik inzwischen verheiratet war, hatte ich von Anfang an symphatisch gefunden. Besonders, weil sie kein Problem damit zu haben schien, dass Nik und ich ein sehr inniges Verhältnis zueinander hatten. In Anbetracht der Tatsache, dass ich nie auch nur das geringste romantische Interesse an meinem Freund und Kollegen verspürt hatte, wäre dies auch vollkommen unangebracht gewesen.
Nach einer kurzen Pause, in der auch Nik und ich unsere Zimmer bezogen, trafen wir unsere Schüler im großen Speisesaal.
Den Nachmittag verbrachten wir mit einem gehetzten Gang durch die Londoner Innenstadt. Nik hatte sich fest vorgenommen, noch am Anreiset die bekanntesten Sehenswürdigkeiten abzukappen, damit man sich den Rest der Woche den historisch relevanten Orten der Stadt widmen könne.
Problematisch war nur, dass Nik für den heutigen Abend überdies auch noch Karten für ein begehrtes Theaterstück hatte ergattern können, weshalb er uns alle nun durch die Stadt jagde. Im Stillen dankte ich unseren Schülern dafür, dass sie diese Tortur so gutmütig und gut gelaunt über sich ergehen ließen. Wobei, vielleicht hatten sie sich auch einfach schon an ihren Tutoren und dessen sprunghaften Geist gewöhnt.
Wenige Stunden später, die sich in Anbetracht unseres rekordwürdigen Schritttempos nur wie einige Minuten angefühlt hatten, stand unsere Gruppe wieder im Eingangsbereich des Hostels. Frisch und schick gemacht warteten wir nun auf die beiden ehemaligen Schülerinnen, die Nik auf eine mir unbekannte Weise hier in London ausfindig gemacht hatte. Sie wollten uns ins Theater begleiten, was mir ehrlicherweise herzlich egal war.
Zwar interessierte ich mich natürlich auch nach deren Abschluss noch für meine ehemaligen Schützlinge und deren Werdegang, doch ich pflegte keinesfalls so freundschaftliche Beziehungen zu ehemaligen Schülern, wie Nik.
Meine Kontakte zu Ehemaligen bestanden eher aus zufälligen Treffen auf Schulfesten, Abibällen oder ähnlichen Veranstaltungen. Und auch auf diesen freute ich mich über manche Begegnungen mehr, über andere weniger.
Noch während ich mich mit zwei von Nikolas Schülern unterhielt, hörte ich hinter mir das Quietschen der Drehtür. Durch Niks Stimme aus meinem Gespräch gerissen drehte ich mich herum, nur um in zwei sehr bekannte Gesichter zu blicken.
Für einen kurzen Moment sah ich Hanna, eine dunkelhaarige Frau mit frechen Locken an. Sie umarmte gerade Nikolas mit einem freudigen Lächeln. Dann fiel mein Blick auf die zweite junge Frau, die noch von Nik verdeckt wurde.
Ihre Augen waren wohl genau wie meine durch den Raum gewandert und nun stoppte ihr unruhiger Blick bei meinem Gesicht.
Lili sah mich an und all die sinnvollen Gedanken, die vor kurzem noch in meinem Kopf herum gespukt waren, verschwanden mit einem Mal.
Lili sah mich an. Ich sah zurück, meine Ohren rauschten und mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. Warum? Warum zum Teufel musste Nikolas ausgerechnet diese eine ehemalige Schülerin anschleppen? Warum? Und warum zum Teufel hatte er mir davon nicht erzählt, mich nicht wenigstens vorgewarnt?
Perplex drehte ich mich von Lili und Hanna weg und erklärte unseren Schülern in ein paar wenigen Sätzen das weitere Vorgehen.
Als sich mein Herzschlag zumindest minimal normalisiert hatte, überbrückte ich die verbleibenden Schritte zwischen mir und Nik. Ich nahm Hanna, die direkt neben ihm stand und mich angrinste, kurz in den Arm.
Dann ging ich einen weitern Schritt auf Lili zu, die mich unbeirrt fröhlich anlächelte. Ihr schien die ganze Situation wenig auszumachen, kein Wunder, sie hatte sicherlich gewusst, dass sie heute Abend auf mich treffen würde.
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Parallelen
RomanceSara ist frisch geschieden, Mutter von Zwillingsmädchen, Lehrerin am städtischen Gymnasium. Eigentlich ist sie fest verankert im Leben. Eigentlich.