Brief Nr. 4

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Freitag, 10.04.15


Hallo Lasse,

entschuldige, dass ich kurz angebunden bin. Ich, ich muss endlich mit jemanden darüber reden und da meine Arbeitskolleginnen in der Buchhandlung sehr gerne tratschen, fallen die Weg. Dann wäre da noch meine Famlie. Zu Laura habe ich nach wie vor keinen Kontakt, zu Papa erst recht nicht und Mama... Ja um Mama geht es eigentlich, deswegen wende ich mich an dich, weil ich glaube, dass du gut zuhören kannst.

Es fing alles am Mittwoch an. Nachdem ich von der Arbeit heimkam fand ich Mama über unserem Fotoalbum sitzen und ihre Tränen tränkten das Papier. Darauf zu sehen sind Papa, Mama, ich und Laura, als wir im Harz im Urlaub waren. Ich war 6 und Laura war gerade 4 geworden. Wir sahen sehr glücklich aus. Mama hatte ihren Arm, um Papa geschlungen und sie sahen glücklich aus. Wie lange war das schon her...

Jedenfalls habe ich meine Sachen im Flur stehen lassen und bin sofort in die Küche gerannt, woher das Weinen kam. Und Mama saß da über das Album gebeugt mit dem Rücken zu mir. Ihr Körper bebte und ihr Weinen hörte sich so schlimm, so herzzerreißend an. Ich lief auf sie zu, streichte ihr über den Rücken und sah, dass sie in der einen Hand ein Küchenmesser hielt.

"Gib es her", sagte ich leise. Mama schüttelte unmerklich den Kopf. "Doch Mama", sagte ich etwas lauter, bestimmter. Ich griff nach ihrer Hand, die das Messer umschlossen hielt und langsam, ganz langsam öffnete sie ihre Hand und ich nahm es ihr ab. Ich legte das Messer außerhalb ihres Radius hin und dann nahm ich Mama in den Arm. Sie klammerte sich förmlich an mich und sie war so schwer, wie ein nasser Sack. Es war alles so viel und ich hatte große Angst. Ich machte ihr dann noch einen Beruhigungstee, gab ihr die Tabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte. Gab ihr zwei Tabletten statt einer, in der Hoffnung, dass sie sich dann wieder entspannen könne.

Nachdem Mama eingeschlafen ist, rief ich ihren Arzt an, flehte ihn an, dass er Mama einen Termin verschaffen könnte. Ich machte ihr einen Termin für den morgigen Tag und sagte im Dorfladen, dass Mama aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen könnte. Weil ich aber selbst morgen arbeiten musste, legte ich Mama das Geld für ein Taxi hin, mit der Nummer.

Am Donnerstag hab ich Mama Essen ans Bett gestellt, ihr noch einen Kuss gegeben und bin dann mit mulmigen Gefühl auf die Arbeit gegangen. Um 10 Uhr bekam ich einen Anruf von Dr. Kowalski, dass Mama nicht zum Termin erschienen ist. Ich bin sofort heimgefahren, habe meiner Chefin kurz Bescheid gesagt, mich ins Auto gesetzt und so schnell es ging, nach Hause gefahren.

Ich habe Mama mit offenen Pulsadern im Badezimmer gefunden, habe sofort den Notruf gewählt, doch dann wusste ich nicht weiter. Ich habe versucht die Blutung mit Pflastern zu stoppen, aber sie waren sofort durchgeweicht und ich war total fertig mit der Welt. Wäre der Notarzt später eingetroffen, dann wäre Mama jetzt tot, weil ich nicht handeln nicht konnte...

Gerade sitze ich im Krankenhaus bei meiner Mutter und schreibe dir den Brief. Mama ist immer noch im Delirium. Was auch immer sie ihr geben, sie schläft tief und fest und ihre Gesichtszüge sind seit langem mal nicht angespannt. Sie sieht so verletzlich aus in diesem Krankenhausbett, an das Bett angeschnürt und mit verbundenen Pulsadern. Morgen wird sie in die Psychatrie übergeliefert.

Tut mir Leid, Lasse, dass ich dich jetzt so zugetextet habe und auch dass ich dir nicht auf deinen letzten Brief geantwortet habe, aber ich habe jemanden gebraucht, der mir zuhört. Und irgendwie wünsche ich mir, dich meiner Nähe zu haben, weil ich dir vertrauen kann, obwohl ich dich noch nicht lange kenne. Vielleicht hast du ja echt recht, dass mir die Einsamkeit nicht guttut...


Deine Marie.

Letters to himWo Geschichten leben. Entdecke jetzt