𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟗

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𝐋𝐢𝐥𝐢𝐚𝐧𝐚

Alesia kommt zur Tür rein und schaut mich völlig erschrocken an. Ich sehe, wie ihre Augen feucht werden. Sofort kommt sie auf mich zu, nimmt mich vorsichtig in den Arm. Dario sitzt einfach still neben mir. Ich muss wieder weinen, bin aber so dankbar für diese Umarmung, die sich völlig richtig anfühlt, als wäre sie meine Schwester, die immer für mich da ist.

„Was ist passiert, Süße?" fragt sie mich, und mich überrennt eine Gänsehaut.

„Süße." Ich löse mich panisch und renne mit Schmerzen ins Bad, schließe hinter mir zu und beuge mich über die Toilette. Übelkeit steigt in mir auf, weil der Name in meinem Bauch ruht, Übelkeit, weil er mich angefasst hat. Ich breche.

„Mi Amor?" ruft mein Ehemann von draußen an die Tür. Ich würge nur noch und kann nicht aufhören. „Mach die Tür auf!" ruft er zu mir. Ich fühle mich völlig unwohl in meinem Körper. Endlich habe ich das Gefühl, dass sich mein Magen beruhigt. Ich ziehe mich an meine Beine und spüre wieder den Drang zu weinen. Mir geht es so schlecht. Ich will, dass alles zurückkehrt. Ich wäre niemals abgehauen, hätte niemals stehen bleiben sollen. Ich dachte, sie wollten mich töten. Doch sie haben mir das angetan, wovor ich am meisten Angst habe.

Die Tür fliegt auf, und ich schreie vor Angst. „Lass mich!" schreie ich Dario an, der panisch hereinkommt. Niemand soll mich anfassen, nicht einmal. „Mi a–" Er kann nicht weitersprechen, weil ich ihm dazwischenkomme.

„Bleib. Da. Stehen," stottere ich, und er bleibt erstaunlich dort stehen. Angst, dass er mir etwas antut. Angst, dass er mich anfasst.

„Liliana," spricht Alesia mich an. Sie hat mich unabsichtlich „Süße" genannt, was aber etwas in mir ausgelöst hat. Ihre Augen sind genauso wie Darios. Beide verspüren Angst. Angst um mich? Sie können mir trotzdem etwas tun.

Der Arzt kommt zur Tür rein und einfach auf mich zu. Ich zittere vor Angst und schreie ihn immer wieder an, dass er nicht näher kommen soll. Wieso macht Dario nichts? Wieso macht Alesia nichts? Wieso kommt er auf mich zu? Er nimmt seine Hand und tastet meine Rippen ab. Ich versuche, mich zu wehren, aber nichts passiert.

„Geprellt," sagt er und schaut zu Dario, der nickt. Dieser Arzt, der mich jetzt auch unerlaubt angefasst hat, entfernt sich. Er wollte doch nur schauen, ob alles mit meinen Rippen gut ist. Aber er hat mich trotzdem angefasst. Wieso fasst mich jeder an, obwohl ich es nicht will?

Ich fasse öfter an die Stelle, wo der Mann sich auf mir ergossen hat. Wieder drehe ich mich zur Toilette und beginne zu würgen, ohne dass etwas herauskommt. Ich spüre eine Hand auf meinem Rücken. Sie fühlt sich aber gerade gut an, und ich spüre keine Angst, sondern Beruhigung.

„Mi Vida, es ist okay, wenn du es mir nicht erzählen willst, aber sag mir, was du brauchst, und ich tue es für dich." Dario klingt zu ruhig. Ich überlege und schließe meine Augen, was mir nicht lange gelingt. Die Bilder steigen sofort vor meine Augen. Ich schließe sie nur kurz, und alles spielt sich wie in einem Video ab.

„Ale– Alesia soll doch erst mal gehen," flüstere ich so leise wie möglich. Zu viele Personen sind mir viel zu viel, und Dario wird definitiv nicht gehen. Daraufhin schließt sich die Badezimmertür, und mein Ehemann, den ich nie gemocht habe, hilft mir hoch.

„Darf ich duschen?" frage ich ihn und schaue nur auf meinen Bauch.

„Alles, was du möchtest, mi Amor," beantwortet er mir die Frage direkt.

„Soll ich dir helfen?" fragt er schnell nach. Ich verneine. „Ich werde vor der Tür warten," versichert er mir streng. Ich nicke und beginne, mich auszuziehen, als er raus ist.

In der Dusche schäume ich mich mit so viel Duschgel wie möglich ein. Schmutzig fühle ich mich. Wie eine Schlampe fühle ich mich. Ich starre nur gegen die Wand, während ich alles versuche abzuwaschen. Doch das Gefühl der Schmutzigkeit geht nicht weg.

Das Licht geht aus, und es holt mich aus meiner Starre. Sofort schalte ich das Wasser aus und höre ein Krachen in unserem Schlafzimmer. „Bitte passiert da nichts Schlimmes, bitte nicht," flehe ich und schlinge mir einen Bademantel um. Ich will die Tür öffnen, doch sie ist von außen verschlossen. Was zur Hölle passiert da? Ein Knall. Ich höre einen Schuss. Was passiert hier schon wieder?

„Mi Amor?" ruft Dario mich, und ich blinzele. Ich war in Gedanken vertieft. Ich dachte, es sei etwas Schlimmes passiert. Ich stehe immer noch in der Dusche und verzweifle langsam an mir selbst. Zweimal kneife ich mich in meinen linken Arm.

„Mi Amor?" wiederholt er, und ich antworte schnell, bevor er hereinkommt. Ich schalte die Dusche aus und trockne mich ab. Komplett bettfertig mache ich mich, doch ich fühle mich unwohl in meinem Körper. Am liebsten will ich gar nichts mehr – einfach weg von allem.

Es passiert immer irgendetwas, mein ganzes Leben lang. Mein Vater. Meine Freunde. Die Entführung. Der Verrat. Der Missbrauch. Es fehlt nur noch, dass ich plötzlich sterbe, und ich habe das Gefühl, dass ich es will.

Ich verlasse das Bad. „Du warst zwei Stunden duschen," informiert mich Dario, und meine Augen weiten sich. Zwei Stunden? Abwesend mache ich mich langsam und mit Schmerzen ins Bett. Gedanken überfluten meinen Kopf. Noch nie hatte ich so viele Gedanken gleichzeitig, dass ich nicht einschlafen kann.

Dario geht schnell duschen, und ich verspüre plötzlich Durst. Ich kann ohnehin nicht einschlafen, also warum sollte ich weiter im Bett liegen? Ich stehe auf und gehe in die Küche. Ich brauche Ablenkung.

Die Treppen gehe ich so unbemerkt wie möglich hinunter, um keine Begegnung mit irgendjemandem außer Dario zu haben. Das wäre sonst die Kirsche auf der Torte heute. Ich schaue vorsichtig in die Küche, um sicherzustellen, dass niemand dort ist. Keine einzige Person sehe oder höre ich, also mache ich mich schnell auf den Weg zum Schrank. Ich hole mir innerhalb von Millisekunden ein Glas und eine Wasserflasche und schleiche leise und auf Zehenspitzen aus der Küche.

Schnell erreiche ich die zweite Treppe, doch plötzlich zieht mich jemand am T-Shirt zurück.

Bitte nicht, ich will keine Gespräche.

Setting off into the unknown futureWo Geschichten leben. Entdecke jetzt