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»Ich kenne sie nicht wirklich. Wir waren zusammen auf der Schule. Im selben Jahrgang«, hört Romina sich sagen. Alles hört sich an, wie in Watte gepackt. Gedämpft. Von Molton verschleiert.

Die junge Polizistin nickt.

Maja wird im Hintergrund, irgendwo verschwommen am Bildrand, in den Leichensack geschoben. Der Reißverschluss kommt Romi ohrenbetäubend laut vor.

»Wussten Sie, dass sie vermisst wird?« Die Polizistin ist blond, mit Pferdeschwanz und großen blauen Augen. Ihr Gesicht hat klare Kanten. Hohe Wangenknochen, eine kurze Nase. Sie wirkt streng in ihrer unförmig sitzenden Uniform. Ob sie privat genauso ist?

»Nein. Ich bin erst gestern angereist«, erklärt Romina. Die Polizistin nickt, schaut auf den Ausweis. »Konstanz.«

»Ja, aber in Westerland geboren.«

Sie schreibt sich etwas auf. »Gut. Dankeschön. Können wir uns bei Ihnen melden, wenn noch Fragen aufkommen?«

»Ja, natürlich.«

Sie lächelt freundlich, ihr Partner kommt dazu. Die nächste Zeugenaussage steht an. Romina sucht wieder nach bekannten Gesichtern. Oscar steht neben seinen Eltern. Die Mutter wirkt völlig aufgelöst, während Richard von Schilling fast schon empört aussieht. Eine Leiche am Strand vor seinem Hotel am Abend seiner Hoteleröffnungsfeier. Morgen wird jeder auf der Insel Bescheid wissen. Und jeder, der irgendeine Ahnung von Maja hat, wird sich bei der Polizei in die Schlange stellen.

Gekifft hat sie, fällt Romina ein. Mit ein paar Jungs aus dem Jahrgang. Finn auch. Einmal hat sie sich die Haare blau gefärbt. Sah schlimm aus, als es sich herausgewaschen hat. Isa hat sie auch mal ausgelacht. Romina auch. Wegen ihrer Schuhe. Die waren Designer-Fälschungen. Wann war das? Siebte Klasse?

Intuitiv sucht Romina nach Finn. Er wird es bestimmt wissen. Sie hatten deswegen gestritten. Weil Maja geweint hatte. Mochte Finn Maja?

Er sitzt auf der Treppe vom Strand zum Pool. Hat den Arm um Isa gelegt. Die weint. Noch immer keine Wärme in seinem Blick.

Vielleicht ist es nur Rominas Interpretation, aber dieses beruhigende Streicheln von Isas Schulter wirkt mechanisch. Automatisch. Er schaut ins Leere, aufs Meer hinaus.

Ob Maja sich umgebracht hat?, geht es Romina durch den Kopf. Oder ist sie vom Boot gefallen? Wann ist es passiert? Wie ist es ihr passiert?

Romina war ganz klein, da hat man ihr schon erklärt, wie gefährlich das Meer ist. Die Strömung, die Wellen, Ebbe und Flut. Geh nicht zu weit raus, achte darauf, wie der Wind steht. Wie es sich anfühlt. Siehst du deinen Vater am Strand? Merk dir die Zeiten der Gezeiten. Wenn du vom Boot fällst – hab keine Angst. Keine Panik. Du musst ruhig bleiben. Sonst ertrinkst du. Ertrinken fühlt sich an, wie ersticken. Deine Lungenflügel pumpen sich voll mit Wasser. Grässlich ist das, Romi.

Pass auf dich auf, Kind.

Bitte um Himmels willen, pass auf dich auf, Kind.

Augenblick sehnt sich Romi nach ihrem Vater. Nach einer Umarmung. Nach zuhause.

Ein letztes Mal sieht sie zu Oscar. Er erwidert den Blick, lächelt sie aufbauend an. Romi hebt die Hand zur Verabschiedung und dreht sich dann um, geht den Strand entlang Richtung Lister Hafen. Dort hält gleich ein Bus. Vielleicht.

Sie schaut auf die Uhr. 21:21.

Die Linie 1 kommt um 21:50. Dank Touristen und Fährhafen nach Dänemark ist die Busverbindung während der Saison immer stabil. Immer überfüllt. Dabei gibt es in List wirklich nichts Sehenswertes. Klein im Norden, mit skandinavisch angehauchten Häuschen und einem Erlebnismuseum über das Wattenmeer. Was auch sonst.

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