1 • Allein

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Jamals Sicht:

Nass, kalt und grau: so lässt sich der heutige Tag in der bayerischen Landeshauptstadt zusammenfassen. Dunkle Wolken hängen über der Säbener Straße. Meine Trainingsklamotten sind komplett durchnässt. Ja, der Sommer ist nun endgültig vorbei und die ungemütliche Wetterzeit hat begonnen. Geradezu erlösend kommt der Pfiff, der das Abschlusstraining vor dem ersten Bundesligaspiel nach der Länderspielpause beendet. Mit den anderen Jungs eile ich in die Kabine, um mich endlich aus den nassen Klamotten zu befreien.

Unterhose, Socken, Hose, Shirt, Jacke - alles wird schnell und achtlos auf den Boden geworfen und mein Weg bahnt sich schnell in die Mannschaftsdusche. Geradezu erlösend prasselt das warme Wasser auf meine Haut, das Gelächter meiner Mitspieler nehme ich nur nebenbei zur Kenntnis. Zu sehr bin ich mit meinen Gedanken bei mir. Als die Kälte aus meinem Körper weicht fängt mich schnell die Nervosität wieder ein. Es ist ein besonderer Tag. Seit vier Monaten bin ich nun schon mit meiner Laura zusammen und heute soll es endlich soweit sein: Haut soll Haut berühren, Liebe soll erwidert werden und Leidenschaft ausgelebt werden. Ob ich mit jemanden zuvor schon einmal das Bett geteilt habe? Also im sexuellen Sinne? Nein. Obwohl sich schon ein paar Mal die Gelegenheit geboten hätte, bin ich immer zurückgewichen. Hatte es nicht als den richtigen Augenblick empfunden, hatte mich nicht so weit gefühlt. Aber nun soll es endlich soweit sein. Ich bin bereit, Laura ist bereit. Sie wollte schon vor Wochen den Schritt machen, aber ich habe mich stets nicht soweit gefühlt. Heute fühle ich es - ich bin soweit. Allein schon der Gedanke daran macht mich zwar erneut nervös, aber turnt mich auch irgendwie an.

Auf einmal vernehme ich aber, dass das Gelächter um mich herum lauter wird. "Was hat er denn" - "was in seinem Kopf wohl gerade vor sich geht" - "gar nicht mal so klein" - "ob wir ihn hart machen"

Meine Gedanken werden wieder klar und mir fällt auf, dass der Blick meiner Teamkollegen auf mir liegt. Eher auf meinen unteren Bereich. Ich sehe hinab und mir fällt mein erregter Schwanz auf. Offensichtlich haben mich meine Vorstellungen an das erste Mal direkt angemacht. Peinlich von dieser Situation berührt trete ich schnell aus der Dusche und binde mir schnell ein Handtuch um.

"Sorry Jungs, nehmt es mir nicht übel. Ich bin nur nervös - naja, wegen zuhause später", versuche ich die Situation zu retten.

Kimmich, mit einem Lächeln im Gesicht und völlig nackt, tritt zu mir und legt seine Hand auf meine Schulter: „Du wirst es doch eh nicht schaffen. Das wie vielte Mal sagst du uns jetzt schon, dass du endlich ein Mann wirst?"

„Ich bin ein Mann, genau wie ihr!"

Doch daraufhin bricht nur lautes Gelächter aus. Jeder, wirklich jeder lacht mit.

"Noch bist du nur ein kleiner talentierter Junge. Am Ball brillant, aber was hast du schon vom echten Leben bisher mitbekommen?", entgegnet mir Joshua.

"Ich, ich...hab mich bisher nur nicht bereit gefühlt.", die Unsicherheit ist mir anzumerken, mein Blick nach unten gewandt. Aufgrund Joshuas Männlichkeit wandert der Blick aber schnell wieder nach oben.

"Und genau deshalb wirst du auch nach der heutigen Nacht nur ein Bursche bleiben.", schließt Joshua diese Diskussion ab.

Wütend, verunsichert, ängstlich, vorwurfsvoll. Schnell packe ich meine nötigsten Sachen in meine Taschen und flüchte aus der Kabine. Weg, weg, ich will einfach nur weg. Hinter mir bricht das Gelächter wieder aus und ich höre Joshua auf den letzten Metern hinterherrufen: "Du solltest mir die nächsten Male nicht mehr auf den Schwanz gucken. Du hast selber einen"

Das Vereinsgelände des FC Bayern ist schnell verlassen. Mittlerweile ist die Nacht angebrochen. Nach wie vor schüttet es aber aus Eimern. In meiner Hosentasche merke ich, wie das Handy vibriert. Ich nehme es und sehe mehrere verpasste Nachrichten von meiner Freundin. "Wo bleibst du?" - "Ich warte" - "Jamal" - "Du wolltest doch heute Abend etwas mit mir machen". Die letzte Nachricht lautet: "Essen ist im Kühlschrank. Weiß nicht, wann du kommst. Ich gehe mit den Mädels ins Kino, bis später"

Ja, ich werde auch weiter allein bleiben.
Ein einsamer Bursche inmitten des Regens.

Ob es Versehen oder Schicksal war, dass ich mein Auto habe stehen lassen kann ich nach mehreren Minuten nicht mehr sagen. Ich versuche meine Selbstzweifel zu verdrängen und nach Hause zu gehen. Im Regen. Plötzlich taucht jedoch ein Taxi vor mir auf. Zumindest sieht es so aus.

"Steig ein, Jamal! Komm, du wirst sonst noch krank!", ruft der Taxifahrer.

"Ich kann mich nicht daran erinnern, ein Taxi gerufen zu haben.", sage ich leicht verwirrt.

"Hast du auch nicht, du wirst aber trotzdem einsteigen. Wenn du willst, dass dein Leben wieder bergauf geht."

Ich sehe den Mann an, kann aber aufgrund der Dunkelheit und des Wassers in meinen Augen nicht klar sein Gesicht erkennen. Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie niemanden zuordnen.

Nennt es naiv oder fahrlässig. Ich steige zur Person auf der Rückbank ins Auto.

"Bringen Sie mich bitte zur Arnfurter St.....", versuche ich anzufangen.

"Ich weiß, wo ich dich hinbringen muss. Ich kenne die Adresse.", antwortet der Taxifahrer und fügt an: "Trink aus der Flasche neben dir, es wird dir guttun bei diesem Wetter."

Ich greife nach der Flasche, die eher wie eine Teeflasche wirkt. Und es schmeckt tatsächlich wie ein leckerer Kamillentee. So ähnlich zumindest. Wenige Sekunden später fange ich innerlich aber leicht zu zittern an. Husten setzt ein. Ich sehe immer unschärfer und verliere langsam das Bewusstsein.

"Sssshhhht, alles wird gut, Jamal. Alles wird gut", sind die letzten Worte die ich höre.

Gestrandet | Jamal Musiala & Florian WirtzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt