4 • Aufeinandertreffen

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Jamals Sicht:

Entgeistert werde ich angesehen. Er dürfte mit so ziemlich jedem gerechnet haben, aber wie es aussieht wohl sicher nicht mit mir.

"Flo?", frage ich ihn mit leiser Stimme ganz vorsichtig. An seinen Adern kann ich sehen, dass er am ganzen Körper angespannt ist. Wenn ich mir seine Augen ansehe, kann ich eine Mischung aus Angst und Verzweiflung darin sehen. Mein Verdacht verhärtet sich, als ich seine hektischen Atembewegungen höre und sehe.

Als keine Antwort auf meine Frage kommt, versuche ich es nochmal ganz langsam von Beginn an. „Flo, ganz ruhig. Ich bins. Jamal. Du kennst mich. Du kannst mir vertrauen.....Alles ist gut", versuche ich ihn zu beruhigen.

Meine Worte scheinen Wirkung zu zeigen. Seine Atmung beruhigt sich, an seinen Augen sehe ich, dass zumindest die Angst weicht und er mich nun ernsthaft ansieht. Er scheint zu begreifen, wie das hier aussieht - dass er mich gewaltsam zu Boden gerissen hat, sich mit seinen Knien gegen meine Beine abstützt, um mich am Boden zu halten. Sein Druck lässt langsam nach, er lässt von mir ab und ganz behutsam kann ich mich wieder aufrichten. Völlig erschöpft setzt sich Florian Wirtz neben mich.

Wir beide kennen uns. Mit der Nationalmannschaft haben wir das gesamte Land zum Begeistern gebracht. Viele sind der Auffassung, wir beiden wären die neuen deutschen Superstars. Und es macht auf dem Platz so einen großen Spaß mit Flo zu kicken. Wir verstehen uns gut, nur außerhalb des Spielfeldes haben wir nicht viel miteinander zu tun. Nicht, dass wir zerstritten oder ähnliches wären, aber unsere Freundeskreise liegen bei anderen. Und so kreuzen sich unsere Wege in der Freizeit eher selten. Er hat seine Freunde in Leverkusen. Ich meine in München, wobei ich mir nach dem Gelächter in der Kabine zuletzt da auch nicht mehr so sicher bin.

Nachdem wir für kurze Zeit wortlos nebeneinander sitzen, fange ich erneut an mit einem Gesprächsversuch.

„Was sollte das eben?....Wieso bist du auf mich losgegangen?"

Und tatsächlich kommen nun die ersten Worte aus Flo's Mund: "Ich wusste nicht, dass du es bist. Ich hörte eine Stimme, irgendjemand rief irgendwas. Dann habe ich Schritte gehört. Ich konnte aus dem Gebüsch nicht klar sehen, wer es ist. Ich dachte....Ich dachte, es wäre dieses Arschloch, das mich hierhergebracht hat."

Daraufhin weiteten sich meine Augen.
„Wer? Wer hat dich hergebracht?", fragte ich mit schneller Stimme.

Flo sah mir ganz tief in die Augen, spürte dass ich ein ebenso berechtigtes Interesse an dieser entscheidenden Frage hatte: "Eben das weiß ich nicht. Ich war naiv, blöd, dumm...die Stimme kam mir irgendwie vertraut vor....dann habe ich mich in dieses blöde Auto gesetzt und an mehr kann ich mich nicht mehr erinnern."

Eine Gänsehaut geht durch meinen Körper. Flo bemerkt, dass ich mich kurz sammeln muss: „Was ist?", fragt er ganz behutsam.

„Mir geht es genau wie dir. Ich könnte dir exakt eins zu eins das gleiche sagen. Ich bin auch in einen Wagen gestiegen, und als nächstes wache ich hier auf."

„Verdammte scheisse", bringt es Flo kurz und knapp auf den Punkt und setzt weiter an: „Da sind wir nun. Mit absolut nichts auf einer gottverdammten Insel. Mein Ende hätte ich mir anders vorgestellt."

„Hey, nichts da. Wir gehen nicht drauf. Hilfe wird kommen, dass muss sie einfach. Wir müssen uns in der Zwischenzeit hier einfach irgendwie durchkämpfen", versuche ich Flo aufzubauen. Und meine Worte zeigen offenbar Wirkung. Er nickt verständnisvoll und rafft sich daraufhin auf. Er reicht mir seine Hand und hilft mir ebenso auf. „Dann komm, Jamal. Den Weg hierunter sind es etwa drei Minuten zum Strand. Wir müssen irgendwie schauen, dass wir Verpflegung bekommen."

„Und wie? Ein Hotel sehe ich nicht.", antworte ich.

Flo lacht aber nur und geht weiter geradeaus. Nach kurzem Marsch kommen wir auf der anderen Seite des Strandes an. Der Seite, wo offenbar Flo - wie auch immer - abgesetzt wurde. Und tja: wenn man es nicht wüsste, könnte man meinen, dass wäre die exakt gleiche Seite, wo ich zuerst erwacht bin. Nichts außer Sand und Meer. Sonst ist hier rein gar nichts zu finden. Die Hoffnung auf eine zeitnahe Rettung zerschlägt sich damit.

„Wie sollen wir hier nur überleben. Wir haben nicht einmal Essen oder Trinkwasser.", kommt es verzweifelt aus meinem Mund. „Bei dieser Hitze verdursten wir. Ich hab jetzt schon einen riesen Durst. Und bin vielleicht gerade mal wenige Stunden hier."

„Also beim zweiten kann ich dir helfen. Wenn du in den Wald reingehst und dann nach ein paar Schritten nach links gehst findest du einen kleinen Fluss. Es ist kein Salzwasser. Und sauber ist es auch.", erklärt mir Flo. Kurz sehe ich ihn an, er mich, er merkt, dass ich mich kurz anspanne als ich sage: „Und warum sagst du das nicht gleich?", frage ich leicht sarkastisch.

Daraufhin steigen wir beide in Gelächter ein. Der erste schöne Moment an diesem Tag. Es tut gut Flo lachen zu sehen, nachdem er anfangs so verzweifelt gewirkt hat. Gute Stimmung werden wir brauchen, bei dem was uns alles bevorsteht.

Nachdem das Lachen abgeklungen ist, setzt Flo wieder mit einem Grinsen im Gesicht an: „Geh und trink etwas. Ich versuche Essen zu finden. Mit Papa war ich früher oft angeln. Vielleicht finde ich einen Fisch im Meer für uns."

Ganz kurz verzieht sich mein Gesicht, doch bevor ich etwas sagen kann fängt Flo wieder an: „Luxus-Essen wird es hier nicht geben, Jamal. Aber vertrau mir: ich finde schon was." Und Flo zwinkert mir zu - irgendwie süß.

„Alles gut. Ich vertrau dir. Ich versuche Holz zu finden. Dann können wir später ein Feuer machen.", schlage ich vor.

Flo nickt mir zu und wir beide machen uns auf dem Weg. Kurz bevor ich den Wald betrete, höre ich Flo erneut rufen. „Jamal!"

Ich drehe mich um und sehe dem 21-jährigen in die Augen: „Ich bin froh, dass du hier mit mir bist.", woraufhin sich Flo direkt wieder umdreht und an die Arbeit macht.

Daraufhin betrete ich den Wald und denke an seine Worte von gerade eben.
Ich bin auch froh, dass du hier bist, Flo. Ich bin auch froh.

Gestrandet | Jamal Musiala & Florian WirtzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt