11. Kapitel

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Zitternd kauerte ich am Strand und ließ das Wasser an meine Knie schwappen.

Wie sollte das nun weitergehen?

Ich nahm kaum wahr, wie mich jemand in die Arme nahm.
Diesen Jemand erkannte ich einige Sekunden später anhand des Geruchs als Melissa erkannte.
Ich drehte mich zu ihr herum und sah, dass sie ebenfalls weinte.

Das Rütteln der Erde ließ mit der Zeit nach, doch ich verblieb kauernd im Sand.
Langsam nahm ich die Hände vom Gesicht und begann, mir mein Umfeld genauer zu besehen.
Tim kniete neben mir, Melissa saß neben Emily einfach auf dem Boden, Nick lehnte sich an die Überbleibsel unseres Hauses und Lukas ließ sich rücklings in den von der Sonne gewärmten Sand fallen.
Unser Haus war zum Teil eingestürzt, die Tür war herausgefallen und bot einen Blick ins innere unseres früherem Hauses.

Die Stühle waren zum Teil umgekippt, die Lampe war zu Boden gekracht.
Ein Schrank in dem wir Jacken und Schuhe aufbewahrt hatten, war ebenfalls umgestürzt.
Kurz gesagt: Ein völliges Chaos.

"Was sollen wir jetzt machen?"
"Am besten erstmal schlafen gehen."

Ich stimmte Nick voll und ganz zu.
Es war warm genug, um auf der Stelle einzuschlafen.
Und genau das tat ich auch.
Ich ließ den Kopf nach hinten sinken.
Als ich ausgestreckt im Sand lag, dauerte es nicht lange, bis ich in tiefem Schlaf versank.

~

Am nächsten Morgen wurde ich von einem unheilvollem Rauschen geweckt.
Ich wusste nicht, was los war, doch irgendetwas sagte mir, dass hier was nicht stimmen konnte, während ich in den bereits blauen Himmel starrte.

Ich wollte den Kopf nicht drehen, aus Angst, vor dem, was ich sehen könnte.
"Leute? Einer von euch wach?", fragte ich etwas hilflos.

Ein unverständliches Grummeln, ich konnte nicht zuordnen, von wem es kam.
Ich stieß Timmy, der neben mir lag, sanft in die Seite.
Als er nicht reagierte, beschloss ich, einfach aufzusehen.
Ich richtete mich auf und blickte um mich.
Das Wasser leckte begierig an meinen Turnschuhen.
Ich könnte hoch und heilig schwören, dass ich mich nicht so nah ans Wasser gelegt hatte.
Wenn ich so darüber nachdachte, wirkten die Wellen größer, lauter.
Übertönten alle anderen Geräusche.

Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Ich wusste, dass es noch nicht vorbei war.
Verdammt es reicht doch, dass ich meine Eltern an die Technik verlor.
Nun nicht noch mein Leben an irgendeine Naturkatastrophe.
Ein weiterer Verlust würde mir bis zum Selbstmord reichen, das wusste ich. Der Gedanke ließ mich erschauern, doch ich lebte ihn nicht weiter aus, da ich sowieso bald sterben würde.

Schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich seit fast 6 Monaten nicht mehr zuhause gewesen war.
Bei Mom und Dad.
Sie beide waren nun tot. Ich begann zu zittern, dabei war mir gar nicht kalt.
Schon verrückt, wie wir vor einer maximal unrealistischen Krankheit davonlaufen, durch eine Welt, die wir uns aufbauten, nur um sie selbst wieder zu vernichten.

Menschen sind schon verrückt.
Selbstsüchtig, ignorant und leider mit einem verdammtem Lebenswillen.

Mit leeren Augen starrte ich auf das Meer hinaus, in der Hoffnung, dort alle Antworten auf meine Fragen zu erhalten.
Zu mir kam ich erst wieder, als ich unmittelbar vor mir eine große Welle aufschlagen sah.
Sie schien sich aufzubäumen und bevor ich beiseite springen konnte, wurde ich mit unangenehm kaltem Salzwasser übergossen.

Nach Luft schnappend fuchtelte ich wild mit den Armen um mich.
Als die Welle brach und auf meinen Knien zusammenklatschte, nahm ich dankbar den Sauerstoff in meinen Lungen auf.
Ich hielt die brennenden Augen einen Moment geschlossen, bis ich ein ersticktes Keuchen vernahm.

Tim lag ja neben mir, als die Welle kam!

Ich riss die Augen auf.
Den Schmerz ignorierend, suchte ich mit dem Blick nach ihm.
Er saß, die Arme in den Sand gestützt, schwer atmend aber lebendig zu meiner Linken.
"Tim?! Geht es dir gut?", rief ich mit mehr Panik in der Stimme als beabsichtigt.

Ich sah aus dem Augenwinkel meine anderen Freunde, wie sie sich aufrappelten.
Tim nickte und ich schlang flüchtig die Arme um ihn.
Trotz des Wassers war er warm und ich genoss den kurzen Moment der Sicherheit, die er mir gab, ohne es zu bemerken.
Manchmal fragte ich mich, ob da etwas war, zwischen Tim und mir.
Doch dann kam wieder etwas, was diese Gefühle unbedeutend werden ließ.

Wie das Erdbeben.

Vielleicht stand es mir nicht zu, zu lieben.
Nicht jetzt, nicht ihn, nicht in diesem Leben.

Als ich ihn losließ, fiel mein Blick auf das Meer.
Eine riesige Welle bäumte sich am Horizont auf.
Sogar mehrere hundert Meter sah sie riesig aus.
Vögel waren verstummt und der Wind nahm zu.
Mir wurde klar, dass das Erdbeben nur ein Vorbote für das Kommende war.
Etwas tötlicheres.

Ich kannte mich nicht aus, aber wenn ich das Verschwinden der Tiere, das heftige Beben und die aufgewirbelten Wellen richtig einordnete, könnte es sich um einen Tsunami handeln.
Eine oder mehrere riesige Wellen, die den Strand verschlucken, und alles was ihnen in den Weg kommt, mit sich nehmen.

Wäre das der Fall, können wir nicht mehr fliehen.
Dann wäre das alles um sonst gewesen.

"Lia." Ich drehte den Kopf zu Lukas, seine Augen voller Angst geweitet.
"Wir werden sterben.", hörte ich Emilys Worte, die wir alle längst gedacht hatten.
Alle meine verfügbaren Gefühle vermischten sich in mir, bis ich nichts mehr fühlte.
Vielleicht war das auch besser so.

"Wir können doch jetzt nicht einfach an so einer verdammten Welle sterben?!", Melissas Stimme brach.

Unwillkürlich griff ich nach Tims und Melissas Händen.
Sie hielten mich fest.
So Hand in Hand standen wir zu fünft am Meer und blickten der Welle entgegen, die nun nurnoch wenige Meter von uns entfernt war.

Riesig.

Ob es wehtun wird?
Ich weiß nicht mehr, ob ich geschrien habe, als das Wasser mich beinahe erschlug.
Tief im Meer versunken, wusste ich nicht mehr, wo oben und unten war.
Alles war schwarz.

Hilfe..

Mein Sauerstoff wurde knapp, ich rang nach Luft.
Aufeinmal hatte ich Dad Gefühl, als würden sich Hände um meine Hüfte schließen.
Mich nach oben ziehen.
Ich erkenne niemanden, nur diese seltsam vertraute Gestalt...

Ein Leben zwischen Ende und AnfangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt