Winterschauer

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Das Erste, was ich nach dem Aufstehen tue, ist das Duschen. Jeden Morgen erhoffe ich mir, danach wacher oder erfrischter zu sein. Allerdings funktioniert das nicht wirklich, meist möchte ich danach wieder in mein Bett, nur um am Tag darauf wieder aufzuwachen und unter die Dusche zu gehen.
Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich aufgewacht bin. Ich merke, dass ich duschen gehen sollte, denn erst danach kann es weitergehen.
Einmal unter dem Wasser gibt es kein zurück mehr. Diese Reinheit, die mir durch das mich übergießende Wasser versprochen wird, ersuche ich für eine lange, dennoch bedeutend zu kurze Zeit. Schon oft kam ich zu spät zur Schule, weil ich das Wasser einfach nicht abstellen wollte. Es gibt mir Sicherheit.
Wenn man duscht, dann kommen einem die verrücktesten Gedanken. Wie wäre ich wohl als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika geeignet? Was mache ich, wenn ich auf einmal der letzte Mensch auf der Welt bin? So etwas eben. Man stellt sich Fragen, auf die man sonst keine Antwort geben kann, aber die Weisheit des Wassers lässt meine Fantasie in Höchstform arbeiten.
Heute ist Samstag, ein Samstag im November. Meiner Meinung nach ist das an sich schon etwas Besonderes, denn davon gibt es dieses Jahr nur vier. Doch heute ist ein ganz besonderer Novembersamstag, denn heute liegt der erste Schnee. Diesen Tag habe ich schon lang ersehnt. Ich nahm mir vor, am ersten Tag des Schnees meinen Mut zusammenzufassen und meine Gefühle für Hinami auszudrücken. Für Poesie und Literatur hatte ich nie etwas übrig. Das änderte sich eines Tages, als mir meine Mutter „Das Kopfkissenbuch" in die Hand drückte, eine Art Tagebuch der Hofdame Shonagon, die vor etwa eintausend Jahren lebte. Es faszinierte mich, wie Geschriebenes Barrieren durchbrechen kann, von denen man gar nicht zu existieren vermutet hatte. Jedenfalls fand ich in diesem Tagebuch eine Referenz zu einem alten japanischen Gedicht, es lautet wie folgt:

Der tiefe Schnee hat unser Bergdorf bedeckt;
Man findet keinen Weg mehr;
Wer mich heute besucht,
dessen Liebe will ich schätzen.

Diese Botschaft hat mich zutiefst ergriffen und ich entschloss mich, da ich wusste, dass Hinami eine Literaturfanatikerin ist und sie auf den Hügeln am Stadtrand wohnt, ihr dieses Gedicht am ersten Schneemorgen des Jahres in geschriebener Form in den Briefkasten zu legen. Heute ist es also soweit. Ich fertige rasch noch eine Zeichnung an, um dem Ganzen eine persönliche Note zu verleihen. Ich sollte noch etwas frühstücken, bevor ich mich auf meine Reise mache. Hie und da liegt etwas Obst, also nehme ich es und verschlinge es schnell, damit ich so früh wie möglich bei Hinami sein kann. Auf meinem Weg zur Zughaltestelle sehe ich die Fußspuren einer Katze im Schnee. Ich finde es interessant, wie diese vergänglichen Artefakte etwas vermuten lassen, was ich so nie gesehen habe. Man könnte sagen, der Schnee ist eine Art Zeitzeuge von Allem, doch fragt man nicht gleich nach, so wird er schweigsam. Erst nachdem ich den Spuren in der Hoffnung auf eine Katze weit gefolgt bin, fällt mir auf, dass mein Zug schon bald kommt. Es ist mir unangenehm einzugestehen, wie aufgeregt ich bin, dabei habe ich mich sogar für die introvertiertere Variante des Briefes entschieden, anstatt ihr das Gedicht persönlich vorzutragen. Nun, eigentlich sollte der Zug inzwischen da sein. Bei plötzlichem Schneefall wie heute kann es natürlich vorkommen, dass der Personenverkehr unpünktlich ist – ... – Beinahe sind 10 Minuten verstrichen. Oh, eine Durchsage. Aufgrund eines Personenunfalls, der sich an der Haltestelle ... ereignet hat, ist diese Zugverbindung für mehrere Stunden aus dem Betrieb ausgesetzt, wir bitten um Ihr Verständnis. Dass der heutige Tag nicht reibungslos verlaufen kann, stand gestern Abend schon in den Sternen. Schnell husche ich also nach Hause und hole mein Fahrrad aus dem Schuppen. 6 Kilometer Weg und etwa 200 Meter Höhenunterschied habe ich vor mir, doch jetzt bringt mich nichts mehr von meiner Mission ab. Ich spüre die eisige Luft des Fahrtwindes, die mir den Atem zuschnürt. Ich höre das Blut in meinen Ohren pulsieren. Was ich nicht wahrnehme, sind die Laute der Umgebung. Immerhin ist es ein verschneiter Novembermorgen. Ich bin also angekommen, so eine sportliche Leistung hätte ich meinem Körper nicht zugetraut. Ich nehme den Umschlag aus meiner Tasche, lege ihn sorgfältig in den Metallkasten vor ihrem Haus, schreibe ihr das Wort „Briefkasten" auf LINE und mache mich wieder auf meinen Heimweg. Als Zeichen der Ehrfurcht gegenüber meiner romantischen Idee entscheidet sich der Hügel diesmal bergab zu verlaufen. Als ich an einer Ampel warte, zücke ich mein Smartphone um zu schauen, ob Hinami schon geantwortet hat. Meine Nachricht ist noch nicht angekommen, komisch, denn eigentlich hat sie ihr Handy immer an. Endlich bin ich wieder daheim, ob ich vielleicht mal einen Blick in unseren Briefkasten werfen sollte? Eigentlich tu ich so etwas nicht, aber heute ist immerhin der dritte der vier Novembersamstage und den gibt es ja wohl nur einmal im Jahr. Und tatsächlich liegt dort ein Stück Papier. Ich nehme es in meine fast eingefrorenen Hände. Dieser Geruch der an dem Zettel hängt ist markant und lässt mich daran denken, dass ich mich nicht nur in meinem Zimmer wohlfühle. Auf ihm steht geschrieben:

Die Winterschauer
ließen mich Quartier nehmen,
meinen Namen nennend!

Erst vor kurzem las ich eine Sammlung von Haibun und Kiko des großen Basho, daher kannte ich diese Phrasen allzu gut. Mir ist bewusst, dass es nur eine Person geben könne, die die Literatur der Jahreszeiten so ernst nimmt. Ich zücke erneut mein Smartphone und schreibe ihr die Worte: „Winterregenschauer in Shimada, doch deinen Namen muss der Wirt ahnen".
Nun sind schon einige Stunden vergangen, meine Nachrichten sind immer noch nicht angekommen, die Bahn fährt wegen des Unfalls immer noch nicht. Doch es schneit wieder stark. Ich sollte mir weitere Gedichte zu Gemüte führen, jene, die die Stärke des Schneefalls genau einfangen. Ihre Auswahl war einfach brillant!

Jedenfallsfreue ich mich schon auf den Winter, momentan ist auf dem Thermometer aber nochwenig davon zu sehen. Wenn ich mir so etwas vorstelle, dann muss ich allerdingszugeben, dass ich als Romantiker besser geeignet bin, verglichen mit dem Amtdes amerikanischen Präsidenten. Ich glaube, das Wasser steigt mir langsam zuKopf, also sollte ich es lieber abdrehen. Mein Vater hält mir immer vor, ichdusche zu viel und das treibe die Wasserrechnung in die Höhe.

U. Forsthain Collection - Lyrik und LiteraturWo Geschichten leben. Entdecke jetzt