Nolin || OneShots

Anders lieben

Mit zwölf bekam Joel an Valentinstag eine rote Grußkarte von einem Mädchen in seiner Klasse. Ihr Name war Michelle. Michelle hatte Joel gern gehabt (was Joel bis heute immer noch nicht ganz verstand, alle anderen in seiner Klasse fanden ihn komisch). In der Grußkarte stand die klassische Frage "Willst du mit mir mal Eis essen?". Und es gab die drei Antwortmöglichkeiten Ja, Nein und Vielleicht. Joel hat Nein angekreuzt. Michelle war etwas traurig, aber sie war Joel nicht böse. Danach waren sie noch gute Freunde gewesen. Der Kontakt brach ab, als Michelle umzog.

Mit dreizehn machte Joel zum ersten Mal mit seiner Klasse das Flaschendrehen. Zwei seiner Klassenkameraden mussten sich bei einer Aufgabe küssen. Joel verstand den Anreiz nicht. Die anderen Schüler:innen schon. Danach waren die zwei mehr oder weniger zusammen.

Mit vierzehn war ein anderes Mädchen in Joel verknallt - Lucy. Sie mochte Mathe, Chemie und liebte Fencheltee. Vielleicht kam Joel nur dank Lucy auf die Idee mit Fenchelsaft. Lucy hatte eines Tages getraut zu fragen, ob Joel Lust hätte, mit ihr ins Kino zu gehen. Joel hatte verlegen den Blick gesenkt und Lucy versucht vorsichtig zu erklären, dass er sie ganz nett fand, aber auch nicht mehr. Lucy dankte ihm für seine Ehrlichkeit.

Mit fünfzehn begann Joel sich ein bisschen zu wundern, warum er bisher kein Interesse an Mädchen hatte. Er verspürte keinerlei Anziehung zu ihnen. Die wenigen Mädchen, die nett zu ihm waren, waren hübsch und alles, aber .. das war's auch schon. Sonst verspürte Joel kein Interesse daran, mal mit einem Mädchen Händchen zu halten. Oder gar ein Mädchen küssen zu wollen. Oder eine Beziehung mit einem Mädchen zu führen.

Erst redete sich Joel ein, dass er vielleicht einfach ein Spätzünder war. Das war okay für ihn. Er hatte es wirklich nicht eilig damit.

Mit sechzehn hatte immer noch kein Interesse an Mädchen. Auch nicht an Jungs. Schwul war er also nicht, das konnte er ausschließen. Er verspürte genauso wenig Anziehung auf Jungs, wie bei Mädchen. Er hatte nicht den Reiz dazu, einen Jungen küssen zu wollen. Kuscheln und Umarmen? Ja. Händchen halten? Okay, ja, aber eben nicht mit jedem. Höchstens vielleicht mit Noah oder Colin, aber sonst mit niemandem. Küssen, oder was darüber hinausging? Lieber nicht.

Wenn Joel genauer darüber nachdachte, wusste er, dass er generell bei niemandem diese Art von Anziehung verspürte.

Romantik und Liebe. Das waren zwei Worte für Joel, dessen Definitionen er bereits aus Büchern, Filmen und im echten Leben kannte. Er hatte miterlebt, wie Colin sich in Noah verliebte und wie Noah Liebeskummer wegen Colin hatte, als dieser nach Köln ging. Er hatte mit angesehen, wie Colin und Noah nach vielen Komplikationen endlich zueinander gefunden haben. Joel freute sich unendlich für seine zwei Freunde. Sie taten sich gut, machten sich glücklich und blühten zusammen auf.

Joel hatte miterlebt, wie Ava ihm erzählt hat, dass Simon interessiert an ihr war, aber sie nicht an ihm. Lange hat es gedauert, bis Simon verstand, dass nicht direkt er das Problem war. Er fand sich mit der Situation ab, als Ava versuchte, ihm zu erklären, dass ihr Interesse an Jungs Lichtjahre entfernt war. Zwar hatte es Ava nicht explizit so ausgesprochen, aber die Botschaft war bei Simon angekommen. Ava mochte nunmal Mädchen, und das war auch okay.

Joel bekam mit, wie Reena die Schule wechselte, um mit Gustav wieder zusammen auf einer Schule sein zu können. Das fand Joel süß. Und nachvollziehbar.

Er bekam mit, wie Marlon Nesrin vermisste, die mit Annika nach Norwegen gegangen war. Trotz einiger Schwierigkeiten schienen die beiden zurechtzukommen. Sie telefonierten und schrieben viel und zwei Mal bekam Marlon schon kleine Pakete von seiner Freundin. Das fand Joel schön. Obwohl Nesrin mehrere Kilometer weg war, meisterten sie die Entfernung. Joel hatte großen Respekt davor.