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Artesa

Wann hört es auf? Wann scheiden sie sich endlich? Wann kann ich aufhören, immer wieder dazwischen zu gehen?
Die Antwort weiß ich, aber will es mir nicht eingestehen. Es gibt keine Scheidung bei Familien wie meiner. Eine Ehe endet mit dem Tod. Ob natürlich oder nicht.

Ich stehe von meinem Schreibtisch auf und greife nach drei meiner Kopfhörer. Ich reiche sie meinen Geschwistern und sofort ist ihnen auch klar warum. Luan, mein einziger Bruder und auch der Jüngste von uns, hat noch am wenigsten Ahnung von dem, was ein Zimmer weiter passiert. Ich verbinde die Kopfhörer meines Bruders mit meinem Tablet und lasse ihm einen Film spielen. Meine Schwestern Loresa und Dea versorgen sich selbst. Geblieben bin ich mit meinen eigenen Gedanken und dem Druck mich selbst zurückhalten zu müssen. Mir ist bewusst, dass ich nicht immer dazwischen gehen kann. Wäre er doch einfach nicht so aggressiv.
Wieso hasst man seine eigenen Kinder so sehr. Wie kann man sein eigenes Fleisch und Blut schlagen, sobald ein falsches Wort ihre Lippen verlässt.

Angespannt setze ich mich an meinen Schreibtisch und versuche den Unterrichtsstoff für morgen vorzubereiten. Manche finden das übertrieben, allerdings sind gute Noten das einzig stabile in meinem Leben. Das einzige Erfolgserlebnis was wirklich zählt. Ich werde es hier rausschaffen und das nur wenn ich nicht versage. Jede noch so unwichtige Unterrichtsstunde wird solange in meinem Kopf wiederholt bis ich das noch in 15 Jahren wiedergeben könnte. Ob das eine Obsession ist? Ist mir egal, es ist eine der guten.

Das Geräusch von zerschmettertem Geschirr hallt durch die kalte Wohnung. Meine Mutter schreit und mein Vater brüllt. Wie kann nicht einmal die verfluchte Polizei vor unserer Tür auftauchen. Die Schreie sind selbst außerhalb des Wohnhauses zu hören und kein einziger Nachbar kommt auf die Idee und helfen zu wollen? Ich hab es so leid. Wenn ich wieder dazwischen gehe, werde ich wahrscheinlich so enden wie meine Mutter.

Ich versuche die Schreie zu ignorieren, bis ich plötzlich den harten Knall der Wohnungstüre höre. Er ist weg. Gott sei Dank. Vorsichtig öffne ich meine Zimmertüre und gehe auf Zehenspitzen in das Wohnzimmer. Erleichtert betrachte ich den Boden. Es war nur ein Teller. Ich hebe langsam die Scherben auf und entsorge sie. Meine Mutter sitzt wie üblich nur da. Ein leerer Blick füllt ihre Augen. "Mam? Willst du was trinken?" frage ich sie.

Sie regt sich nicht. Kein Wort. Kein Wimpernzucken. Keine Reaktion.

Ich nehme mir einen Apfel und schneide ihn in dünne Scheibchen. Schweigend laufe ich mit dem Apfelstücken in mein Zimmer und schließe die Tür. Sie will nicht reden und das wird sie auch nicht.

Mit einem Lächeln stelle ich den Teller auf mein Bett, damit meine Geschwister etwas naschen können. Ich widme mich wieder meiner Unterrichtsvorbereitung bis ich merke, dass alles um mich herum still ist. Meine Geschwister liegen alle eingekuschelt auf dem Bett. Ich räume meine Unterlagen leise auf und lege mich zu ihnen. Ob ich diese Nacht schlafen kann?

*****

Mein 6:00 Uhr Wecker reißt uns alle aus dem Schlaf. Nachdem wir uns abwechselnd im Bad fertig gemacht haben, fange ich an mich zu schminken. Ich kann nicht anders als mich komplett zu verändern. Concealer, Mascara, Blush, Bronzer, Eyeliner. Ich will dieses traurige Gesicht einfach nicht sehen. Das Ergebnis zweier Leute, die sich nicht lieben konnten.

"Tesa, kannst du mir meine Schuhe binden?" fragt Dea mich. "Zemer du musst das irgendwann lernen. Du bist jetzt schon in der 6. Klasse" merke ich an. Sie nickt. Ich binde ihre Schnürsenkel und stelle fest, dass alle drei bereits fertig gemacht sind. Zügig greife ich nach einer schwarzen eleganten Stoffhose und kombiniere sie mit einem creme-farbigen engen Oberteil, meiner braunen Trenchcoat und schwarzen Stiefeln. Anschließend greife ich nach meiner Tasche und laufe gemeinsam mit Ihnen aus dem Haus.

Es ist ziemlich kühl für einen Herbstmorgen. Wir laufen die Straße runter bis wir schon an Luans Grundschule ankommen. Meine Schwestern laufen selbstständig zur Schule. "Luan ich hol dich ab, okay?" stelle ich ihm klar. "Ani Tesa" umarmt mich und platziert einen Kuss auf meine Wange. Ich mache es ihm nach und ein kleines Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. Luan rennt in seine Klasse und ich mache mich auf den Weg zu meiner Schule.

Die FOS ist nicht weit von meinem Wohnblock, sodass ich sie in 15 Minuten auch zu Fuß erreiche. Durch meine Ohren dröhnt laute Musik. Das Einzige was meine Gedanken für eine Weile ausschaltet.

******

"Artesa" ruft meine beste Freundin durch den Klassenraum. Aufgeregt springt sie neben mich auf ihren Stuhl und fängt an zu erzählen. "Die Parallelklasse geht diese Woche die Uni anschauen. Wir gehen safe auch. Macht ja sonst keinen Sinn. Aber jetzt zum springenden Punkt." Sie blinzelt mich ernst an. "Heiße Studenten." Die Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht kitzelt ein herzhaftes Lachen aus mir. "Du hast sie doch echt nicht mehr alle Erza". "Und wie ich sie noch alle hab" verdreht sie ihre Augen. "Stell dir vor wir spazieren in die Hörsäle und eine Reihe von gutaussehenden Südländern sitzt da und lernt. Was gibt es bitte attraktiveres?" starrt sie mich an.

Der Lehrer läuft in den Klassenraum und beendet dieses Gespräch für mich. Er kündigt den Ausflug in die Uni an und die ganze Klasse ist begeistert. Warum auch nicht? Unterrichtsfreier Tag. Weshalb sollten sie sich nicht freuen? Für mich heißt es dennoch lernen. Es ist eine Sucht.

******

"Erza" winke ich meiner besten Freundin zu um ihr zu signalisieren, wo ich bin. Die Klasse hat sich vor dem Haupteingang der Universität gesammelt und versperren gerade einigen genervten Studenten den Weg. Ich beäuge Erza und ihr perfekt gewähltes Outfit für den Anlass. Sie trägt eine enge blaue Jeans mit kniehohen schwarzen Stiefeln und den dazu passenden langen Mantel. Fast das gleiche wie ich nur das ich einen braunen Mantel trage. Mantel-Obsession liegt bei uns im Blut.

Wir laufen in das Gebäude und bekommen eine ausführliche Tour. Die Informationen reichen von Lerngebieten bis zu Mensaessensplänen. Erza lehnt sich an meine Schulter während wir langsam aber sicher müde werden von den monotonen Vorträgen des Tourleiters.

"Erza ich muss kurz auf die Toilette. Ich halte es nicht mehr aus. Merk dir alles Wichtige was er sagt" flüstere ich ihr zu und suche zügig nach einer Toilette. Ich laufe den Gang ab und finde endlich das Schild mit der Toilettenbeschriftung.

***

Ein letzter Blick in den Spiegel und ich laufe in den Gang und den Weg zurück. Wo ist meine Klasse? Ich war doch nur 2 Minuten weg junge. Ich greife in meine Hosentasche aber fühle mein Handy nicht. Scheiße nein! Ich laufe in den nächsten Gang und versuche eine Menschenmenge zu finden. Wie kann es bitte so schwer sein eine Klasse zu finden?

"Hast du dich verlaufen?"

Ich drehe mich um und mein Blick trifft auf ein Paar brauner Augen.

MaletWo Geschichten leben. Entdecke jetzt