Artesa
"Die Abiturprüfungen dieses Jahr finden im Mai statt. Ich möchte nun, dass sie sich folgende Daten für die anstehenden Klausuren notieren." Unserer Klassenlehrer ist zwar langweilig, aber ich habe dennoch ein gutes Gefühl dabei, dass er uns gut durch das Abitur bringen wird. Ich notiere mir alle Daten, selbst die unnötigen. Ich muss die perfekte Schülerin sein.
Erza ist heute ziemlich ruhig. Etwas ungewöhnlich. Besorgt tippe ich sie an ihrem Arm an. "Ist alles okay?" Sie nickt nur aber ich glaube ihr kein Wort.
"Was bedrückt dich?"
"Zukunftsängste, wie immer. Ich weiß nicht, ob ich das Abitur packe. Herr Kren deutet ja schon ziemlich stark an, dass es richtig schwer wird."
"Abitur wird ja auch schwer, deswegen haben es ja nicht alle. Aber wir schaffen das." versuche ich sie aufzubauen.
"Mir war ja klar das es kein Kinderspiel wird, aber langsam zweifle ich sehr"
"Nein Erz, wir schaffen das. Wir lernen zusammen. Meine Kinder werden eine Tante mit Abitur haben, verstanden?" Ich grinse sie an.
Darüber haben wir immer gesprochen. Wir werden die ersten in unseren Familien sein mit Abitur in der Tasche. Unsere Familien kommen beide aus dem Kosovo. Die Generationen vor uns waren zwar auf Bildung fokussiert, aber der Krieg und auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes, machten es unseren Eltern und Großeltern nicht möglich, ihre Bildung zu priorisieren. Darum gaben Erza und ich uns schon in der 7. Klasse das Versprechen die ersten mit Abitur zu sein. Aber nicht nur das spielte eine Rolle in dieser Entscheidung. Es ging uns nicht nur darum die ersten zu sein, sondern auch darum die ersten Frauen in der Familie mit einem hochgestellten Schulabschluss zu sein.
Ein großer Teil der albanischen Bevölkerung hat sich schon deutlich ins Positivere entwickelt, aber ein bestimmter Teil eben nicht. Erzas und meine Familie gehören zum Letzteren. Ich musste wirklich kämpfen um die Erlaubnis, das Abitur machen zu dürfen, von meinen Eltern zu bekommen. Nach wochenlangem Beten und Überreden hat mein Vater es endlich erlaubt. Seither ist ein riesiger Druck auf mir. Deswegen muss ich einfach die perfekte Schülerin sein."Versprich mir, dass du mich nicht hängen lässt. Du musst mir helfen Tesa" Sie ist wirklich verzweifelt. Hundertpro hat ihr ihre Mutter mal wieder den 'du kriegst das eh nicht hin mach was sinnvolleres' Vortrag gehalten. "Wir lernen zusammen, wir schreiben die Prüfungen zusammen und wir bestehen zusammen. Und dann studieren wir und ziehen weg. Ani? (okay)" Sie umarmt mich und wir konzentrieren uns wieder auf Herrn Krens Unterricht.
*****
Die Musik dröhnt in meinen Kopfhörern. Auf Anweisung meiner Mutter sollte ich noch einiges einkaufen und bin daher direkt nach der Schule zum Aldi gelaufen. Ich nehme mir einen kleinen Einkaufswagen und spaziere durch die Gänge. "Eisbergsalat, Brokkoli, Tomaten, Karotten, 10 Sternsemmel, ein Mischbrot geschnitten..." flüsternd gehe ich den Inhalt meines Einkaufswagens durch, um sicherzugehen das ich alles habe. ".. Erion" Sofort drehe ich mich um und sehe das Gesicht zu dem Namen. "Ich stehe doch sicher auch auf deiner Einkaufsliste" zwinkert er mir zu. Er steht nicht weit entfernt von mir. Dafür aber so nah, dass sein Geruch in meine Nase steigt. Heute trägt er eine verwaschene Jeans und dazu einen schwarzen Pullover. Seine dunkelbraunen Haare sind zwar verwuschelt, aber dennoch sieht es aus als ob jedes Haar an seinem Platz ist.
"Träum weiter" antworte ich mit einem spielerischen Unterton. Er ist ziemlich selbstsicher. Er sieht gut aus, das muss ich ihm lassen. Aber das Problem ist, dass er es weiß. Die Bestätigung wird er von mir sicher nicht erhalten."Egal, du hast mich ja schon" er grinst.
"Sag mal, flirtest du mit jeder so?" ich ziehe eine Augenbraue hoch.
"Nur mit dir"
Ich verdrehe meine Augen und laufe weiter. Mir fehlen noch Erdnüsse. Mein Vater muss immer etwas snacken beim Tee trinken.
"Weißt du, ich finde es äußert erstaunlich, dass wir zur selben Zeit im selben Laden sind. Du etwa nicht? Fast schon Schicksal" er legt eine Hand auf meinen Einkaufswagen um mich vom Weitergehen zu hindern. Mein Blick fällt auf seine Hand. Statt das mir seine gepflegten Nägel und Hände als erstes auffallen, bemerke ich zuerst die Kratzer an seinen Knöcheln."Was ist mit deinen Händen passiert?" Er nimmt seine Hand weg und steckt beide in seine Hosentaschen. Er versteckt sie vor mir. "Meine Katze" antwortet er mir, aber seine Stimmlage ist deutlich ernster geworden.
"Du lügst, aber ich lasse dich davon kommen"
"Wieso denkst du das ich lüge?" dieses Mal zieht er eine Augenbraue hoch.
Woher ich weiß das er lügt? Ich bin sonst immer die gewesen, die ihre Hände, Arme oder sonstiges versteckt hat. Man könnte sagen, dass ich ein Profi darin bin.Ich zucke nur mit den Schultern und bemerke dann, dass er gar keinen Einkauf mit sich trägt. "Wolltest du nicht etwas besorgen?"
"Meine Mutter hat den Einkaufswagen, aber ich hab dich gesehen und wollte kurz mit dir sprechen" sagt er selbstbewusst. "Und deine Mutter wird nicht schockiert sein, wenn sie dich mit einem Mädchen sieht?" Ich weiß, dass albanische Mütter bei ihren Söhnen lockerer sind, aber es macht einfach nicht Klick bei mir. Ich meine, ich drehe mich gefühlt alle zwei Sekunden um, um sicherzugehen das mich keine Tante beobachtet, wenn ich mit einem Klassenkameraden rede. Für Mädchen wie mich ist es schwer normalen Kontakt zu Männern zu halten. Selbst die kleinste Unterhaltung mit einem Mann kann dazu führen, dass mein Ruf beschmutzt wird. Bei Erion weiß ich allerdings nicht, ob seine Mutter einfach locker ist oder ob sie es gewohnt ist, ihren Sohn mit verschiedenen Frauen zu sehen. Und eins ist sicher, ich werde sicher nicht eine von vielen sein."Ich kann euch gerne vorstellen" Er sagt das als wäre es nichts. Ich hab das Gefühl das mein Kiefer gleich den Boden berührt. Er legt seinen Finger unter mein Kinn und drückt es wieder hoch. Dieser freche...
Ich schlage seine Hand weg. "Ist sie es etwa gewohnt, Frauen mit dir zu sehen?"
Er schmunzelt und nähert sich so sehr, dass ich seinen warmen Atem an meinem Ohr spüre. "Ich habe ihr noch nie eine Frau vorgestellt" flüstert er und im nächsten Augenblick stehe ich alleine im Gang.Kann ich ihm glauben? Ist auch egal. Ist ja nicht so, dass er mein Hochzeitskandidat ist.
Aber ich möchte diesen warmen Atem wieder spüren.________________________________
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Malet
RomanceArtesa Cela ist ein 19-jähriges Mädchen. Aufgewachsen in einer albanischen Familie mit Eltern, die keine Kinder hätten bekommen sollen, versucht sie das perfekte Abitur zu erreichen. Beschäftigt ihre Geschwister vor Trauma zu bewahren und zu lernen...