Der Bahnsteig war so gut wie leer. Ich stand in dem kleinen gelben Viereck und steckte mir eine Zigarette an, während ich mir meine dunklen Haare aus der Stirn wischte. Ich sah auf die Anzeigentafel. 22:34. Ich biss mir auf die Unterlippe und nahm einen tiefen Zug meiner Zigarette. Im selben Augenblick meldete sich wieder eine computergenerierte Stimme für eine abgehackte Durchsage: „Der Zug nach Paris, Abfahrt 22:18, wird voraussichtlich 40 Minuten später eintreffen."
Ich schüttelte den Kopf und rollte mit Augen. Es war immer dasselbe mit der Deutschen Bahn. Nie auch nur einmal pünktlich und besonders nicht, wenn es darauf ankam. Während ich meine Zigarette in den dafür vorgesehenen Aschenbecher warf, informierte ein ständig fortlaufendes Band an der Anzeigentafel, dass sich die Verspätung bereits auf 45 Minuten erhöht hatte. Ich hatte bereits via Handy recherchiert und wenn wir die Verspätung nicht wieder hereinfuhren, was ich mir nicht gerade vorstellen konnte, dann würde ich mit ziemlicher Sicherheit den Anschlusszug in Paris um 05:47 nach Atoi verpassen und der nächste Zug würde erst um 09:47 fahren. Ich seufzte erneut und sah zurück auf die Anzeigentafel. Ich hoffte auf ein Wunder, aber die Realität ließ mich ernüchtert zurück.
Als ich schließlich in den fast leeren Zug eingestiegen war und meine beschlagene Brille an meinem Pullover abgewischt hatte, verließen wir bereits den Bahnhof. Wir hatten über eine Stunde Verspätung. Die Schienen führten endlos in die Dunkelheit hinein und von Zeit zu Zeit durchfuhren wir einen der kleineren Bahnhöfe. Aber je weiter wir von meiner Heimatstadt wegkamen und quer durch dünnbesiedeltes Gebiet fuhren, desto seltener wurden diese kleinen Inseln aus Licht. Irgendwann lehnte ich meinen Kopf gegen die kühle Schreibe. Die Zuggeräusche wurden leiser und ich driftete immer mehr in einen seichten Schlaf ab, aus dem mich allerdings ziemlich bald der Schaffner weckte. Ich zeigte ihm mein Ticket und sah wieder einige Zeit aus dem Fenster. Aber mehr als Dunkelheit, Wiesen, ein paar Bäume und ab und zu der Schimmer einer entfernten Stadt war nicht zu erkennen. Ich lauschte dem monotonen Rattern der Räder ....
Ich inmitten der eingestürzten Kirche auf einem Geröllhaufen, ganz so wie ich es mir bei Viktor vorgestellt hatte, und sah hinauf zu dem Buntglasfenster. Dahinter senkte sich die Sonne herab und rotes Licht strömte durch das Fenster. Die Schatten in der Kirche wurden länger und mit jedem Herzschlag wurde es düsterer. Vereinzelt ragten die Reste der Wandgemälde aus dem Schutt, wie Kriegsopfer. Links neben meinem Fuß, etwa anderthalb Meter entfernt, sah ich den Ausschnitt einer Szene von Maria mit dem Jesuskind. Das Gemälde war halb von Steinen begraben. Etwas weiter weg sah ich einzelne Arme und Köpfe von Statuen und noch mehr Reste von Bildern. Bis auf das große Buntglasfenster waren die anderen Fenster zerbrochen und Glas knirschte unter meinen Sohlen. Während die Sonne sich immer weiter herabsenkte, brannte etwas in meinem Nacken, ganz so als beobachtete es mich. Verstohlen warf ich einen Blick zurück, sah aber nur die dunkle Kirche. Ihre Schatten wuchsen mit jeder Sekunde. Erst jetzt sah ich, dass ich etwas in der Hand hielt. Mein Griff wurde stärker und ich erkannte, dass es eine Art Spazierstock war. Wo kam der her?
Das Gefühl beobachtet zu werden wuchs. Hinter mir knirschten Schritte, aber als ich mich herumdrehte, sah ich nur die Reste einer Madonnenstatue im schwindenden Licht der Abenddämmerung. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter und meine Kehle schnürte sich zusammen. Hastig hielt ich nach dem Ausgang Ausschau und kletterte gerade den Schutthaufen nach unten, als der Untergrund sich veränderte. Es rumorte und krachte. Der Boden riss auf und flutete die Kirche mit Graberde. Gedenksteine wurden wie Wasser in einer Gebirgsquelle nach oben gedrückt, ehe Knochen und Gebeine folgten. Ich stand in einem Meer aus Knochen. Und dann war da wieder dieses Gefühl, von jemandem oder etwas beobachtet zu werden. Etwas kitzelte meinen Nacken. Ich spürte warmen, feuchten Atem an meinem Hals. Zögernd und ächzend drehte ich den Kopf, obwohl ich es eigentlich nicht tun wollte. Etwas war hier, im Schatten der Kirche und es war auf der Jagd nach mir. Am Rand meines Sichtfeldes tauchten bereits die ersten Umrisse auf und jetzt roch ich es auch. Fauliger, brackiger Geruch nach Moder. Er legte sich über mich, wie ein Leichentuch und kroch in meine Nase. Er nahm mir die Möglichkeit zu atmen. Kalter Schweiß tropfte von meinen Haarspitzen und rann meinen Nacken hinunter.
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YOGGHOTH - Das verfluchte Buch
Mystère / Thriller"Alles fing mit diesem verfluchten Buch an ..." - Nikolai Wolf - Eine Kirche in der Normandie stürzt ein, nie hätte Nikolai sich träumen lassen, dass dieses Ereignis sein Leben auf den Kopf stellen würde. Kurz nach dem Unglück meldet sich sein alte...