Kapitel 8

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Diese Frage kommt unerwartet, ist aber  mehr als berechtigt. Die Antwort hätte ich auch, aber die Worte bleiben in meinem Hals stecken. Mein Herz und mein Kopf kämpfen und zwar gegeneinander. Ich bin verwirrt, verängstigt und aufgewühlt. Das alles wegen dieser schlichten Frage. Ginge es nicht um mein Leben, so könnte ich bestimmt einfacher Antwort geben.

Aber das ist das Problem.

Es geht um mein Leben und wie lange ich es noch leben kann. Es geht um den Rest meines Lebens.

Liam sieht mich besorgt an. Ich muss wahrscheinlich ziemlich schrecklich aussehen, aber das bin ich gewohnt. Dass ich nicht mehr so hübsch bin wie früher. Wegen der Nebenwirkungen meiner Medikamenten habe ich stark abgenommen, meine Haare sind wegen der Chemo ausgefallen und meine Haut hat seit fünf Monaten keinen richtigen Sonnenstrahl mehr empfangen. Jedes Mal wenn ich in den Spiegel sehe ist es wie ein kleiner Schock für mich. Manchmal zieren fette Augenringe mein Gesicht. Meine Wangen sind eingefallen und ein trüber Blick ziert meine Augen.

Und ständig hoffe ich wieder wie früher auszusehen. Mit meinen Kurven, meinen schwarzen Locken und meiner normal blassen Haut. Immer wieder wünsche ich mir den Glanz in meine Augen zurück, der mir aber vom Krebs gestohlen wurde.

Meine Eltern bringen manchmal alte Fotos von mir mit. Diese anzusehen bringt mich jedes einzelne Mal fast um. Die Erinnerungen an mein "altes" Leben, wie ich es nenne, schmerzen und jedes Mal habe ich das Gefühl, dass die Erinnerungen in mir anfangen zu brennen. Als wollten sie mir absichtlich Schmerz zufügen. Meine Eltern erzählen mir jedes Mal, wirklich jedes Mal, etwas zu den Fotos. Was ich damals gemacht habe, wo und wie es entstanden ist. Immer muss ich mich zusammenreissen, damit ich wegen dieser Erzählungen nicht anfange zu weinen. Aber ich schaffe es trotzdem jedes Mal.

Was mehr als schwer für mich ist.

"Henna, alles okay?", unterbricht Liam meine Gedanken.

"Ja." Mehr bringe ich nicht raus. Meine Stimme ist heiser und mein Körper fühlt sich an, als hätte ich die Hölle in mir drin. Was nicht einmal so falsch ist. Denn die Tumore sind genau das,  die Hölle.

Die Tumore.

Warum auch mussten es plötzlich mehrere sein?

Anfangs war es "nur" ein Geschwür unterhalb meiner Brust. Es wurde operativ entfernt und die Sache hatte sich für mich erledigt.

Oder auch nicht.

Eine Woche später bekam ich Schmerzen und hatte Blutungen. Ich musste Blut spucken. Egal wo, überall war Blut. Ich wurde ins Krankenhaus geliefert und dort stellte man ziemlich schnell fest, dass dieses Geschwür harmlos war. Im Gegensatz zu dem was ich in mir trug. Mehrere Ableger in der Lunge und ein Tumor in meinen Eierstöcken trug dazu bei, dass ich verdammt bin zu sterben.

Denn die Ableger waren überall und sie sind mehr als nur gefährlich.

Sie werden mir mein Leben kosten.

"Über was denkst du nach?", fragt Liam in die Stille.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass er nicht viel redet. Er weiss wahrscheinlich, wie ungern ich eigentlich von meiner Situation rede. Das macht ihn zu etwas sehr Wertvollem für mich. Ein süsses Kribbeln durchfährt mich, das ich sehr Willkommen heisse.

"Über Alles und irgendwie über Nichts.", lautet meine Antwort. Ich will ich meine Gedanken nicht mitteilen, er hat für heute definitiv genug gehört.

Ein leichtes Schmunzeln lässt seinen ernsten Gesichtsausdruck ein wenig locker werden.

Einen kurzen Moment schliesse ich die Augen, lasse die letzten Tage in Sekunden Revue passieren. Dann trifft mich fast der Schlag, als mir etwas klar wird. Oder besser, die Antwort auf meine Entscheidung ist gefallen.

"Ja.", ich spreche es laut und kräftig aus. Als würde mein Leben davon abhängen, was es auch tut.

Liam sieht mich verwirrt an.

"Was meinst du?", hakt er nach.

"Du hast mich gefragt ob ich aufgebe, meine Antwort lautet Ja. Ja zu all den Dingen die mir hier im Krankenhaus genommen wurden. Zu all den Dingen die mir so sehr fehlen."

Sein Blick verändert sich. Er sieht irgendwie wütend aus. Und Enttäuschung liegt in seinen braunen Augen.

"Du gibst auf? Du gibst tatsächlich deinen letzten Monat dafür her, dass du rauskannst? Du gönnst deiner Krankheit also den Sieg. Lässt sie gewinnen und du lässt dein Leben fallen. Hast vielleicht noch etwa zwei Wochen ohne deine Chemo und dann? Dann bist du weg, für immer. Wirst sterben wie alle Anderen vor dir. Wie meine Mutter. Ich weiss es ist deine Entscheidung, aber weisst du was? Du bist mir wichtig geworden, ich habe das Gefühl ich kenne dich von Geburt an. Ich habe das Gefühl dass wir zusammen aufgewachsen sind und wir zusammen mit der Krankheit kämpfen. Und du? Du gibst auf. Das ist so erbärmlich!", Liam's Stimme wird immer lauter und wütender.

Bevor ich etwas erwidern kann, springt er auf und rauscht aus meinem Zimmer. Es bricht mir das Herz und ich weiss ich hätte warten sollen mit dem Mitteilen meiner Antwort. Aber vielleicht lebe ich bis zum nächsten Mal gar nicht mehr, wenn etwas schief geht.

Bitterliche Tränen laufen mir über's Gesicht. Tränen der Wut, Enttäuschung und irgendwie Trauer. Verdammt, warum schmerzt es so?

Der letzte Satz hat irgendetwas in mir gerissen. Etwas, woran ich mich die letzten Monate verzweifelt geklammert habe, was für mich wichtig war.

Hoffnung.

Er hat mir den letzten Funken Hoffnung genommen, durch dass das er mir die Realität erklärt hat. Hoffnung, die ich brauche, um das Alles zu überstehen. Die ich jetzt nicht mehr habe. Die mich Innerlich zerbrechen lässt.

Ich bringe seinen letzten Satz einfach nicht aus den Kopf.

"Das ist so erbärmlich!"

Genau so hat er es gesagt. Diese Worte brennen in meinem Herzen. Verbrennen mein Herz und verursachen praktisch nur Schmerzen.

Schmerzen von denen ich schon mehr als genug habe.

"Das ist so erbärmlich!"

"Das ist so erbärmlich!"

Mein Hirn wiederholt den Satz wie ein Mantra, ohne das ich es will. Immer und immer wieder, bis ich unruhig und weinend einschlafe.

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