13.

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Ich liege auf dem Rücken und starre die weiße Decke an. Ich versuche aus den kleinen Hubbeln und Wölbungen ein Bild entstehen zu lassen, jedoch erfolglos. Ich bin kein Mensch mit viel Fantasie. Mein Atem geht ruhig und ich denke gar nichts, meine ganze Aufmerksamkeit gehört der Decke.

"Lou?", fragt eine Stimme aus dem Off. Ich stoße zur Antwort hörbar Luft aus. "Willst du nicht mal aufstehen?" Ich schüttle fast unmerklich den Kopf. Wie oft hat er mir diese Frage in den letzten Stunden, nein Tagen gestellt. Ich habe die Zeit vergessen. Er schweigt wieder hilflos. Ich kann seinen Blick auf mir spüren. Ich verspüre Scham. Ich bin gemein zu ihm. Er kümmert sich um mich, er sorgt sich um mich, hat mich bei sich aufgenommen, und das alles, ohne überhaupt irgendetwas von mir zu wissen, ohne mich nur ansatzweise zu kennen. Ich habe ein Drücken auf der Brust. Und was habe ich für ihn getan? Nichts. Unbehaglich rolle ich mich zur Seite. Ich lasse meinen Blick durch das Zimmer gleiten. Gerade fällt die Haustür zu. Er ist schon wieder gegangen. Ich weiß nicht mal wohin er geht. Ich weiß gar nichts über ihn und mir wird schmerzhaft bewusst, dass es mich nicht einmal gekümmert hat, wohin er jeden Tag verschwindet. Ich habe nie Interesse an ihm gezeigt, nur dafür, mich an ihm festzuhalten und seine Fürsorglichkeit in Anspruch zu nehmen. Was für ein Egoist ich doch bin. Entschlossen setzte ich mich auf. Kurz dreht sich alles und ich lehne mich an, bis das Zimmer wieder ruhig steht. Ich stehe auf. Was kann ich tun? Ich schaue mich um. Es ist das erste Mal, dass ich mir die Wohnung überhaupt mal richtig anschaue. Sie ist mit bunt gemischten Möbelstücken eingerichtet, doch es ist alles stimmig und passt zu hundert Prozent zusammen. Der bunte Teppich, das braune Sofa, die roten Kissen, der kleine Flachbildfernseher, die Poster an den Wänden, Das Bücherregal mit Büchern aller Art darin: Lexikon, Atlas, Wörterbuch, aber auch Krimis, Romane und ich kann sogar die Herr der Ringe Reihe ausmachen. Er besitzt viele Filme und CDs, ein ganzes Regal voll. Ich gehe näher heran und hocke mich vor den CDs auf den kühlen Boden. Die Sonne scheint mir wärmend durch die Scheibe auf den Rücken. Von Green Day, Nirvana und Blink-182 bis Mozart, Bach und Vivaldi ist fast alles dabei. Eine große Musiksammlung. Er scheint mir sehr gebildet. Ich finde wenig Schnickschnack herumstehen. Eigentlich gar nichts, außer ein paar Kleinigkeiten, die er wahrscheinlich geschenkt bekommen hat. Ich stehe auf und gehe in den kurzen Flur. Hier hängt eine Fotografie, die ich mir noch nie genau angeschaut habe. Es ist eine junge Frau und er beim Tanzen. Er hebt sie in die Luft. Auf ihrem Gesicht ist ein breites Lächeln. Ich gehe weiter. Irgendwie stört mich das Bild. Ich gehe in sein Zimmer. In der Tür zögere ich. Doch dann mache ich einen entschlossenen Schritt hinein. Ich sehe mich um. Ein Doppelbett, das fast das ganze Zimmer ausfüllt, aber nur eine Decke und ein Kissen mit schwarz weißem Bezug. Die Wand am Kopfende des Bettes ist schwarz angestrichen und ein riesengroßes graues Bild von London hängt dort. Sonst ist das Zimmer spärlich eingerichtet. Ein großer weißer Schrank und eine Kommode und ein Schreibtisch mit Computer und Stuhl. Auf dem Stuhl steht eine Trainingstasche. Sie ist offen. Ich schaue hinein. Zertanzte Ballettschläppchen und dreckige Trainingsklamotten. Ich nehme die Stoffschuhe in die Hand. Ich vermisse das Tanzen. Es war mein Leben. Auch wenn ich es zwanghaft tun musste, war es ein Teil von mir. Ein großer Teil. Ich habe fast nichts anderes getan. Und ich war gut. Ich hätte es zu meinem Beruf machen können, mit dem Staatsballett tanzen können, berühmt werden können. Aber wollte ich das wirklich? Ich weiß es nicht. Es war der einzige Weg, den ich hatte. Und wenn ich etwas anderes finde, etwas, dass ich genau so gut kann? Ich bin weg von meiner Mutter. Weg von Ihm, von Markus. Es widerstrebt mir seinen Namen nur zu denken. Ich bin verwirrt. Ich habe so viele Möglichkeiten und Perspektiven. Ich kann machen, was ich will. Ich lache auf. Ich bin frei.

Ich höre, wie die Türklinke runtergedrückt wird. Ich öffne die Augen. Ich befinde mich immer noch in Leos Zimmer und liege auf seinem Bett. Ich fühle mich so gut wie lange nicht mehr. Ich schaue zur Tür. Er steht da, schaut erst einmal ungläubig, doch dann breitet sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus. "Na?", fragt er und setzt sich auf die Bettkante. Ich setze mich auf und fahre mir durch die Haare. Sie sind wie ein großes Nest aus fetten Knoten. Zur Antwort lächle ich tapfer und er nimmt mich in den Arm. Kurz versteife ich mich, das bin ich nicht gewöhnt. Aber es fühlt sich gut an und ich lege ebenfalls meine Arme um ihn. Ich weiß nicht, wie lange wir so da sitzen, aber es könnte nie zu lange sein. Es ist das erste Mal seit so langer Zeit, dass ich mich richtig wohl und geborgen fühle. Ich pruste los. Wir lösen uns. Auf Leos fragenden Blick hin sage ich kichernd nur drei Worte:

"Ich bin frei."

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ArabesqueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt