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Für eine, ich weiß nicht wie lange Zeit, stehe ich immer noch an der selben Stelle, zwischen den kaputten Straßenlaternen und den tiefen Schatten der alten Gebäude rechts von mir. Der Mann liegt immer noch regungslos auf dem Asphalt. Seine Augen geschlossen und sein langsam trocknendes Blut neben seiner Blut verschmierten Nase. Der Junge hat ihn ganz schön zugerichtet. Er ist zwar sehr selbstbewusst rüber gekommen, aber ich habe nicht gedacht, dass er zu sowas im Stande ist. Ich traue mich nicht den Blick von dem Mann zu lassen. Was ist wenn er gleich wieder aufsteht und mich wieder bedroht? Der Junge ist fort. Ich wäre dann ganz alleine. Ich würde mich garantiert nicht groß wehren können. Ich bin schwach und verletzt. Meine Rippen und mein Bauch schmerzen von den verpassten Tritten. Doch ich kann doch nicht einfach gehen! Der Mann ist verletzt und bewusstlos. Das hoffe ich. Auch so sehr er mich geschlagen und getreten hat, ich wollte nicht, dass er tot ist oder dass er jetzt stirbt. Ohne einen Blick von ihm abzuwenden, ziehe ich mein Handy aus der Tasche und wähle ganz langsam die Notrufnummer.

Die Wartezeit auf den Rettungswagen war unglaublich lange. Eine Zerreißprobe für meine Nerven, da ich jeden Moment Angst hatte, dass der Mann aufwacht und wieder auf mich einschlägt um mir mein Handy zu klauen. Dann endlich sehe ich Scheinwerfer in der Ferne. Ein großer Wagen mit Blaulicht bleibt in der Ferne stehen und ein Polizeimotorrad kommt links an ihm vorbei auf mich zu gefahren. Von der Helligkeit geblendet halte ich meine Arme schützend vor mein Gesicht. Ein Polizist steigt ab und ein weiterer kommt von hinten auf uns zu gefahren.
"Bist du der Junge, der angerufen hat?", fragt der größere der beiden Polizisten, nachdem er seinem herbeifahrenden Kollegen ein Zeichen gegeben hat, die Sanitäter zu holen.
Ich nicke, immer noch die Augen zu kneifend wegen den hellen Scheinwerfern des Motorrads des Polizisten. Es ist inzwischen so dunkel, dass der Polizist die Scheinwerfer anlassen muss, damit man hier überhaupt noch was erkennen kann.
"Du sagtest, dass du ihn hier so gefunden hast?!", der Polizist kniet sich neben den Mann und legt zwei Finger an den Hals des Mannes.
"Ja", antworte ich, "ich kam gerade vom Einkaufen und dann lag er hier verletzt und bewusstlos."
Der Polizist nickt und steht wieder auf.
"Ist er tot?", frage ich ihn besorgt, aber der Polizist schüttelt den Kopf: "Nur bewusstlos im Moment."
Erleichtert seufze ich. Die Sanitäter stoßen dazu und heben den Mann auf eine Trage, nachdem er von ihnen den Zustand des Mannes für stabil erklärt hat.
"Ok danke, dass du angerufen hast! Hier hätte ihn wahrscheinlich keiner gefunden. Auch wenn sein Zustand vorerst stabil ist, hätte es für ihn ohne dich schlimm ausgehen können", lächelte der Polizist und gibt mir eine meiner schweren Einkaufstüten.
"Ach kein Problem!", antworte ich und nehme dankend die Tüte entgegen. Doch sie ist so schwer, dass sofort ein stechender Schmerz durch meinen Oberkörper fährt, als ich dann eigenständig in meiner Hand halte, sodass ich sie fort wieder fallen lassen, um mir meine Rippen zu halten.
Erschrocken schaut der Polizist mich an:
"Alles in Ordnung?"
Ich nicke. Er ist mir total peinlich, dass der Polizist das gesehen hat. Ich wollte nicht schwach wirken. Mir ist es unangenehm, wenn Leute sehen, wenn ich verletzt wurde, weil es zeigt, dass ich mich nicht wehren kann.
"Weißt du was?", der Polizist hebt die Tüten auf und klopft mir auf die Schulter, "es ist schon echt dunkel. Ich bring dich mit deinem schweren Gepäck nach Hause."
Normaler Weise hätte ich das abgelehnt, doch bei den Schmerzen und schweren Tüten nicke ich dankbar.
Es ist unangenehm dem Polizisten meine Adresse zu nennen und ihm die Wohngegend, in der ich lebe, zeigen zu müssen. Doch er sagt nichts und lässt auch nichts zu meinem Wohnbedingungen anmerken, als wir in den Teil der Stadt biegen und uns die grauen, kaputten Hochhäuser entgegen kommen.
"Hier ist es!", rufe ich und zeige mit meinem Finger auf das graue Haus links. Der Polizist hält an und steigt ab.
"Komm ich helf dir noch tragen!", er nimmt eine der Tüten und geht auf die große Eingangstür zu.
"Brauchen Sie nicht, danke! Das schaff ich schon!", ich tausche die Tüte gegen den Helm und bedanke mich nochmal, dass er mich mitgenommen hat, bevor ich durch die Eingangstür in unser Haus schlüpfe. Jetzt wäre es toll gewesen wenn der Fahrstuhl funktionieren würde. Langsam hebe ich immer wieder abwechselnd die rechte und dann die linke Einkaufstasche auf die nächste Treppenstufe und stiefle Bein für Bein hinterher, um die größten Schmerzen zu vermeiden. Endlich oben angekommen krame ich den Schlüssel aus der Hosentasche und hole den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Mit den Tüten laufe ich langsam in die Küche, in der meine Mum auf einem Stuhl sitzt und sich fleißig Wodka nachschenkt.
"Sohn endlich!", schnaubt sie und winkt mich zu ihr, damit sie ihre neuen, frisch gekauften, stark alkoholischen Schätze betrachten kann.
"Kein Jack Daniels?!", fragt sie laut, "warum hast du kein Jack Daniels gekauft?!"
Sie schlägt mit ihrer leeren Wodka Flasche auf den Tisch und funkelten mich böse an, "Du kannst dir ja nicht mal die leichtesten Dinge merken!"
Scheppernd geht die Flasche rechts neben meinem Ohr kaputt. Ich zucke zu zusammen und sehe einen kleinen Rest Wodka neben mir die Wand runterlaufen.
"Den hatten sie heute nicht mehr. Ich hab dir aber dafür was anders mitgebracht!" Meine Mutter bebt vor Wut und schleudert nun ihr Glas, dass mich auch nur scharf verfehlt: "Ich will aber nichts anders, du Schwachkopf!" Seufzend gehe ich meine Mutter zu und versuche sie zu beruhigen. Diese Wut Anfälle sind völlig normal. Vor allem abends, wenn sich der Alkohol über den Tag nur so gehäuft hat. Doch es bringt nichts und ich bin froh, dass sie nicht noch ein Glas oder Flasche hat, die sie auf mich werfen kann und sie nur schreit und mit ihren Fäusten auf den Tisch hämmert.
"Geh mir aus den Augen! Du hast schon genug angerichtet!", ihre Stimme überschlägt sich vor Wut, "Geh einfach aus der Küche, Calum!"
Wenn sie solche Ausraster hat, ist es das beste ruhig zu bleiben und einfach das zu machen, dass sie sagt, um die Situation ein wenig zu entschärfen. Ich gehe ins Wohnzimmer, in dem es wieder ungeheuer nach Alkohol stinkt, aber schließe doch vorsichtshalber die Tür ab. Wegen dem Gestand öffne ich erstmal ein paar Fenster, bevor ich den Fernseher anschalte, damit ich nicht das Gefühl habe, dass ich hier drin ersticke.

"Nach nun 6 Monaten Suche, ohne jeglichen Erfolg, hat die Polizei die Ermittlungen in dem Fall von Luke H. eingestellt", ein Bild von einen Polizeiabsperrband und Polizei Autos erscheint auf dem Bildschirm, "am 16. Oktober vergangen Jahres verschwand der damals 16-jährige spurlos nach einem Strandbesuch, bei dem er, laut Badewächter, beinahe ertrank. Als dieser dann einen Krankenwagen rief, war der Jungen verschwunden, als die Sanitäter ankamen. Am Abend kam der Junge nicht nach Hause und seine Familie meldete ihren Jungen vermisst." Bilder einer weinenden Familie und des Badewächters huschen über den Bildschirm und die Stimme des Reporters fährt fort: "Nach mehreren Entführungstheorien und einer anfangs heißen Spur, die sich später als falsch herausstellte, suchte die Polizei vergebens nach dem Jungen."
Ein schlanker kleiner Junge, mit einem blonden Seitenscheitel und blauen Augen, lacht auf dem eingeblendeten Bild in der Mitte des Fernsehers.
"Heute teilte dann schließlich der Polizeichef mit, dass sie die Ermittlung wegen fehlender Hinweisen einstellen müssen. Wir teilen unser tiefstes Mitleid mit der Familie von Luke."
Ich kann mich nur noch zu gut erinnern, als die Nachricht im Oktober durch die Medien ging. Damals kam es beinahe täglich. Jeden Tag sah ich die weinenden Gesichter der Geschwister und Eltern von den Jungen. Er hat so eine perfekte Familie und dann wird dieser arme Junge entführt. Vielleicht sitzt er jetzt gerade in irgendeinem Keller und hat jegliches Zeitgefühl verloren oder liegt in irgendeiner Plastiktüte in einem Müllcontainer. Er hatte so ein perfektes Leben! Das Haus, dass immer von der Familie gezeigt wurde, spricht dafür, dass es ihnen eindeutig nicht an Geld fehlt und so wie die Familie weint und den Polizeichef nur so anbettelt weiterzusuchen, hatte er eine wunderbare Familie.
Und dann sitze ich hier mit meiner immer betrunkenen Mum, die ihre leeren Glasfalschen nach mir wirft und ohne Dad, weil ich ihm komplett am Arsch vorbei gehe. Manchmal denke ich darüber nach, wie es wäre einfach zu verschwinden. Schließlich würde es niemand merken und stören, wenn ich einfach verschieden würde. Für immer. Außer Keira. Sie wäre die einzige, die mich wirklich vermissen würde.

A/N:
Ein neues Update!
Ich hoffe es gefällt euch!

Ich habe heute mein, bis jetzt, Lieblingskapitel von dieser Geschichte geschrieben, aber bis die kommt müsst ihr noch ein paar Kapitel warten :)

Love y'all
Xx Ju

Disappear | cakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt