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Nach Luft ringend fahre ich hoch. Bin ich tot? Meine Lungen schmerzen und mein Hals brennt. Fühlt es sich so an tot zu sein? Ich bin in einem Raum, den ich nicht kenne. An einem Ort den ich nicht kenne. Eigentlich spricht doch alles dafür, dass ich tot bin. Ich habe mein Bewusstsein in der alten Gasfabrik verloren und ich bin nicht im Krankenhaus oder so was. Der Raum ist dunkel, ohne Fenster. Nur eine Tür gegenüber von mir. Wenn ich jetzt dadurch gehe, komme ich dann in das, was nach dem Tod kommt? Ich stehe langsam auf und mein ganzer Körper schmerzt. Langsam hebe ich mein Shirt an. Überall sind noch die blauen Flecken und Verletzungen zu sehen, die ich mir bei der Schlägerei mit Caden und Chase geholt habe. Ich dachte immer wenn man tot ist, ist man erlöst von allen körperlichen Schmerzen. Aber vielleicht stimmt das einfach nicht. Schließlich ist noch nie jemand von den Toten zurückgekehrt und hat der Menschheit berichtet, was nach dem Tod passiert. Vielleicht gehen die Schmerzen weg, wenn ich durch die Tür gehe. Wer weiß wohin die einzige Tür führt. Ich schleppe mich zu der Tür. Jeder Schritt ist eine Qual für meinen Körper. Meine Rippen und meine Lungen brennen, das Atmen fällt mir schwer. Ich lege eine Hand und die Türklinke und drücke sie langsam herunter. Nur schwer und langsam lässt sich die stählende Tür öffnen. Ein grelles Licht kommt mir entgegen und ich muss die Augen zukneifen. Langsam und fast blind von der ungewohnten Helligkeiten, laufe ich in den großen Raum hinter der Tür. Die eine Seite besteht komplett aus Fenstern und grell scheint die Sonne herein. Als sich meine Augen langsam and das Licht gewöhnt haben, sehe ich die andere Gestalt am anderen Ende des Raumes. Sie lächelt und drückt sich von der Wand weg, an der sie gelehnt hatte. Es ist ein Junge, ungefähr so alt wie ich. Er hat blonde Haare, die leicht nach oben gestylt sind und blaue Augen. Er wirkt wild aus mit seinen zerschlissenen Jeans und dem Lippenpercing in seiner Unterlippe. Er ist zwar nur etwas größer als ich, aber wirkt viel größer, da er sehr sportlich zu sein schien.
"Gut zu sehen, dass du wach bist!", er grinst und bleibt vor mir stehen. Neben ihm wirke ich wie Lauch, weil ich relativ schlaksig und nicht durchtrainiert bin.
"Ohne mich wärst du schon zwei Mal tot", lacht er und setzt sich auf ein Stück Zement, dass im Raum liegt.
"Ich bin nicht tot?", frage ich ihn verwirrt. Wieso bin ich nicht tot? Ich hätte da sterben sollen. Ich wollte das es vorbei ist.
Er lacht: "nein, du bist nicht tot. Sehe ich aus wie Gott?", amüsiert schüttelt er den Kopf, "nein, tot bist du nicht. Also biologisch!"
Fragend schaue ich ihn an. Was meint er damit?
Wieso hat er mich eigentlich gerettet? Er hätte das nicht tun sollen. Ich wollte keine Rettung in dem Moment. Ich wollte es für ein für alle Mal beenden. Meinem nutzlosen Leben für immer entfliehen. Das war mein Gedanke von Rettung für mich gewesen.
Er sieht mich einen momentlang an und seufzt: "Du wolltest sterben, stimmts?"
Ich atmente tief ein und setzte mich. Ich sah den fremden Jungen an und nickte: "Ich wollte, dass alles vorbei ist. Ich hab es nicht mehr ausgehalten! Mein Leben ist scheiße. Das Schicksal hasst mich. Es hat mich immer spüren lassen, dass ich nichts wert bin."
Mir ist es unangenehm mit dem Fremden darüber zu reden. Ich fühle mich wieder schwach und verletzlich.

"Warum hast du mich hier her gebracht?", frage ich, "warum hast du mich nicht in ein Krankenhaus gebracht oder so was?"
"Deswegen!", er hält mir sein Handy vors Gesicht, "die Welt hält dich für tot."
Ich nehme sein Handy entgegen und starre geschockt auf den Bildschirm. Dort prangt ein Bild von der Gasfabrik. Komplett zerstört. Darunter steht: "Ein tragischer Selbstmord erschüttert die Stadt. Der 17-jährige Calum H. hat sich laut Polizeiangaben am Dienstag in der Gasfabrik selbst in die Luft gesprengt. Vor der Fabrik fand man das Handy des Jungen mit seinem Abschiedsbrief. Wir geben unser größtes Beileid an die Familie und Freunde von Calum."
Ich schlucke und schaue den Fremden an: "Was heißt das?"
"Das heißt, dass du tot bist. Also alle denken du bist tot", er sah mich ernst an und ich könnte erkennen, dass er genau wusste was in mir gerade vor ging. Was mache ich jetzt? Gehe ich jetzt einfach Nachhause zurück zu meiner Mum und sage, dass ich nicht tot bin und lasse mich anschreien, dass ich nichts wert bin? Ich gehe einfach zurück in die Schule und lasse mich auslachen, weil ich es nicht geschafft habe mich umzubringen?
Aber so bin ich ein Niemand. Und das wortwörtlich. Ich habe keine Identität mehr. Ich habe es zwar irgendwie geschafft meinem alten Leben zu entfliehen, aber ich hatte es mir anders vorgestellt. Wie soll ich denn als niemand weiterleben? Warum soll ich als niemand weiterleben? So habe ich erst recht niemanden mehr. Ich habe nicht mal mehr Leute, die mich anschreien oder verprügeln. So bin ich jetzt komplett allein. Am besten hätte es einfach alles in der Gasfabrik enden sollen. Wie geplant.

"Hey sieh es irgendwie als Chance! Ich dachte, als ich dich gerettet habe, dass du dich in Gefahr gebracht hast. Als dann das Ding in die Luft flog und die Polizei kam, habe ich dich mitgenommen, weil ich dich denen nicht überlassen wollte und ich dann realisiert habe, dass du dich vielleicht umbringen wolltest."
"Als Chance?", frage ich verzweifelt, "ich kann nicht zurück in mein altes Leben, da würde dann nur noch schlimmer werden. Und jetzt bin ich ein niemand und ganz alleine! Ich will tot sein. Mein scheiß Leben ein Ende setzten! Wie soll das eine Chance sein?"
Der Junge nickt und steht auf: "Du kannst von null anfangen, Calum! Du kannst dir die Identität erschaffen, die du willst!", der Junge schaut mich an als würde ich nicht verstehen, was für eine Ehre das ist, alles von neu anzufangen. Doch ich werde das nicht schaffen mir alles neu aufzubauen. Denn wie auch? Ich bin schwach.
"Ich habe das selber alles schon mal durchgemacht. Mir ist es so ähnlich passiert. Ich wollte mich auch umbringen und wurde gerettet", er läuft wieder auf mich zu und klopft mir auf die Schulter. Ich zucke zusammen, weil ein Schmerz durch meinen Körper fährt.
"Und glaub mir, es ist viel besser als tot zu sein. Man sollte sein Leben nicht wegschmeißen! Höchstens auf Reset drücken. Aber schmeiß niemals dein Leben weg. Es ist viel zu wertvoll!"
Ich schweige und nicke nur. Der Junge schüttelt den Kopf und atmetet laut aus:
"Auch wenn du mir im Moment nicht glaubst. Lass mich dir helfen und dich überzeugen! Lass es mich wenigstens versuchen!"
Ich antworte nicht und schaue einfach nur auf den Boden. Wie sollte ich ihm vertrauen? Ich kannte ihn nicht? Warum sollte ich mein Leben in seine Hände legen?
Obwohl ich habe ja sowieso schon alles versaut und verloren. Ich habe schon jede Hoffnung verloren. Schlimmer kann es ja eigentlich nicht mehr kommen. Im Notfall kann ich ja immer noch den Ausweg nehmen. Der Junge lässt genervt die Arme sinken und geht in Richtung einer Tür in dem Raum, die mir bis jetzt noch unbekannt ist. Er öffnet die Tür und dreht sich noch einmal zu mir.
"Ok warte", rufe ich und stehe rasch auf. Wieder schmerzt alles und ich muss mir meine Rippen halten, "Ich mach mit! Schlimmer kann's ja sowieso nicht mehr kommen!"
Der Junge zieht einen Mundwinkel hoch und kommt wieder zu mir zurück.
"Luke", sagt er und hält mir seine Hand hin.
"Calum", antworte ich und nehme seine Hand. Er lacht, drückt sie und klopft mir auf den Rücken. Ich zucke, weil ich den Schlag kurz in meinen Verletzungen spüre.

"Gut, dann erkläre ich dir mal, wie es die nächsten Wochen erstmal für dich weiter geht!", er setzt sich und holt eine angefangene Packung Kekse aus seiner Tasche, "Keks?"

Jetzt wird mir klar, warum Luke am Anfang davon gesprochen hatte, dass ich ohne ihn schon zwei Mal tot wäre. Jetzt ist klar, dass mir seine Stimme unheimlich bekannt vor kommt und das ich dieses Gesicht schon mal gesehen habe. Ich kenne diese Packung Kekse, weil es nämlich die ist, die ich mir beim letzten Einkauf gekauft habe und die, die der Junge, der mich vor dem Arschloch auf dem Motorrad gerettet hatte, geklaut hat. Luke ist dieser Junge gewesen.

A/N: Damit starten wir in das zweite Drittel der Story! Wahrscheinlich wars nicht ganz so überraschend, aber schreibt gerne mal, ob ohr es schon geahnt habt.
Xx Ju

Disappear | cakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt