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Es ist heftig wie sehr man die Zeit vergisst, wenn man ein neues Leben begonnen hat. Ich habe inzwischen gar keine Ahnung mehr welcher Wochentag ist und was wir generell für ein Datum haben. Ich weiß nicht mal mehr viel lange ich jetzt schon bei Luke bin. Es sind auf jeden Fall schon mehr als 50 Tage. Anfangs habe ich die Tage noch gezählt. Ich weiß nicht genau warum ich da getan habe, schließlich erinnerte mich es immer noch an mein altes Leben, an die Zeit bevor ich neu anfangen konnte und daran wie sehr ich vorher gelitten habe. Vielleicht habe ich das getan um mich daran zu erinnern, dass es jetzt besser wird und glücklich bin die Tage mehr werden zu sehen. Doch schließlich habe ich dann aufgehört zu zählen, um endgültig mit meinem alten Leben abzuschließen. Ich habe die ganze Zeit damit verbracht mit Luke zu trainieren und mich dem neuen Leben immer mehr anzupassen und immer Calum zu werden. Immer mehr zu Calum werden, der sich nicht verprügeln, der auch nicht ignorieren, der sich nicht auslachen, sich nicht von jedem verunsichern und klein kriegen lässt. Der einfach mal seinen Willen durchsetzt. Ich kann inzwischen stolz in den Spiegel schauen und brauche kein Selbstmitleid mehr zu verspüren. Luke sagt auch immer wieder, dass ich kaum noch wieder zu erkennen bin. Der Calum, den er damals vor dem Motorradfahrer gerettet hat, hat es wirklich nicht aus der Gasfabrik geschafft, aber den Weg für diesen Calum hier freigegeben. Inzwischen gehen Luke und ich auch mal aus der Wohnung raus und unter Menschen, weil schon die ganze Sache schon lange genug her ist und ich auch nicht mehr als Calum aus dem traurigen Viertel zu erkennen bin.
Wir schleichen durch die Seitenstraßen der Innenstadt. Die Sonne ist schon leicht am untergehen und wirft braun, goldenes Licht auf die Stadt. Es muss auf jeden Fall schon etwas her sein, seit dem ich bei Luke bin. Der Herbst scheint schon im vollen Gange zu sein. Immer wenn ich mit Luke unterwegs bin hält er sich bedeckt in der Dämmerung auf. Ihm scheint die untergehende Sonne sehr zu gefallen und es sieht aus, als ob er sich dank ihr sicher fühlt. Wir kommen an einem kleinen Kiosk vorbei, an dem sämtliche Zeitungen aushängen. Mir fällt, dass ich gar keine Ahnung mehr habe, was in der Welt so passiert, was hier so passiert. Ich bin so beschäftigt gewesen meine eigne Welt neu zu sortieren, dass ich der Außenwelt keine Aufmerksamkeit schenken konnte. Auch wenn die Außenwelt auch nie ein Freund für mich gewesen ist, kann ich ihr ja jetzt vielleicht eine Chance geben dies zu werden. Ich bleibe stehen und nehmen langsam eine Zeitung aus dem Ständer. Langsam fahre ich mit meinen Fingern über das graue Papier und betrachte die verschieden Buchstaben in den Überschriften. "16. Oktober" steht oben in der Ecke der Zeitung und ein kleines Bild mit der Wettervorhersage der nächsten drei Tage ist daneben gedruckt.
"Kommst du?", fragt Luke und ich höre wie er ein paar Schritte wieder zurück gelaufen kommt, die schon ohne mich vorgegangen ist. Auf die Zeitung vertieft nicke ich und murmele ein "ja mache ich" in seine Richtung.

Entführungsserie?
Die Polizei nimmt die Untersuchungen im Fall Luke H. wieder auf.

Diese Überschrift steht dick gedruckt auf der Titelseite der Zeitung. Zwei Bilder sind zu sehen. Eins von einem Jungen, der seit Juni dieses Jahres verschwunden ist und das Bild von Luke H., dass ich im Fernsehen gesehen habe. Der Junge, der aus so seinem perfekten Leben verschwunden ist. Taemin L. steht unter dem Bild des neu Verschwunden. Er lächelt genau so glücklich wie Luke H. auf seinem Bild und ich bin mir sicher, dass er bestimmt auch liebe Eltern und Freunde hat, die jetzt um ihn weinen und sich Sorgen machen. Das was für den alten Calum keiner gemacht hat. Es gibt Kinder die aus ihrem perfekten Leben gerissen werden und andere, die fliehen werden um glücklich zu werden. So wie ich.
"Was liest du da?", fragt Luke plötzlich und steht direkt hinter, dass mich leicht erschreckt, da ich da von ausgegangen bin, dass er noch immer da vorne steht und auf mich wartet. Luke schaut über meine Schulter und schiebt meinen Arm mit der Zeitung ein Stück nach oben, damit er die Schlagzeile lesen kann. Plötzlich wird sein Griff fest und er hält kurz seinen Atem an. Dann fängt auf einmal an etwas nervös zu lachen: "Haha deren Ernst?", amüsiert schüttelt Luke den Kopf und lässt meinen Arm los, "als ob die zusammenhängen?! Und ich meine das von ihm hier, Luke H., ist es schon genau ein Jahr her. Als ob man da noch was rausbekommen kann!" Irritiert schaue ich an und schaue dann wieder auf die Zeitung. Für mich klingt das alles total überzeugend. Außerdem ist es wichtig diese beiden Jungs zu finden. Die beiden leiden bestimmt in ihrem dunklen Keller. Wenn sie überhaupt noch in irgendeinem Keller sind und nicht schon in einem Müllsack oder Sporttasche verscharrt, damit jegliche Hinweise erstmals versteckt sind um diese grausame Tat aufzuklären. Obwohl vielleicht sind Luke H. und Taemin L. inzwischen zu zweit. Vielleicht ist dann entführt zu sein gar nicht mehr so schlimm. Vielleicht ist der Entführer ja auch ein lieber Mann, der nie Kinder hatte und kümmert sich total gut um die beiden...
Ich muss selber meinen Kopf schütteln über diesen Gedanken.
"Komm jetzt Calum! Lass diese Scheiß Zeitung hier! Wir wollen weiter!", Luke sieht genervt aber auch hektisch hin und her. "Nein warte ich nehme die mit! Dieser Fall hier interessiert mich!"
Luke verdreht die Augen und zieht mich an der Kapuze vorwärts: "dein Glück, dass die kostenlos ist!"
Leicht zufrieden grinse ich und laufe neben Luke weiter. Er läuft auf einmal ziemlich schnell und es schwer mit ihm Schritt zu halten. Er zieht auch plötzlich seine Kapuze tiefer ins Gesicht als eine Frau uns von der anderen Straßenseite grüßt. Verunsichert schiebe ich meine Mütze tiefer und rolle meine Ärmel weit über die Hände. Immer wieder lese ich beim Laufen die Schlagzeile und betrachte die Bilder der beiden Jungen. Ich weiß nicht, warum mich dieser Fall auf einmal so beschäftigt.
"Jetzt pack den Scheiß doch mal weg", motzt Luke und reißt mir die Zeitung aus der Hand. Schnell und lieblos rollt er die Zeitung zusammen und stopft sie in meine Jackentasche, "sonst läufst du noch irgendwo gegen!"

Disappear | cakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt