12. Kapitel

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Ich starrte auf die Tür die gerade hinter ihm zugefallen war. „Das mit heute Nacht tut mir leid, hab einfach zu viel getrunken, sorry." Der Satz prallte in meinem Kopf herum wie ein Tischtennisball. „Zu viel getrunken." „Tut mir leid." Ich fühlte mich einfach nur leer. Wie konnte man nur von einer Sekunde auf die nächste so weit nach unten fallen, nur durch einen einzigen Satz? Ich war nicht einmal wütend oder enttäuscht oder traurig, sondern einfach nur leer. „Tut mir leid." Wie in Trance stand ich auf. Ich ging zu meiner Tasche und zog mich an. Danach fing ich an meine Sachen zusammen zu suchen, die überall in Tims Zimmer verstreut lagen. Wenn er wieder von der Uni kam würde ich nicht mehr da sein, so viel stand fest. Ich suchte gerade auf Tims Schreibtisch nach meinem IPod, als mir etwas anders in die Hände fiel: Ein Reiseführer über Köln. Ich blätterte darin herum. Zwischen den Seiten, in dem Kapitel über das Kölner Rathaus, lag ein Kassenbong. Mein Blick fiel auf das Verkaufsdatum: Er hatte den Reiseführer vor zwei Tagen gekauft. Die Taubheit hatte sich mittlerweile gelöst und jetzt war ich wieder komplett verwirrt: Er hatte sich also tatsächlich nur wegen mir einen Reiseführer gekauft? Das war verrückt. Allgemein war die Situation ziemlich verrückt: Erst gestand ich ihm meine Gefühle, er gab mir einen Korb. Dann tat ihm das total leid und er wollte unbedingt, dass wir Freunde blieben. Danach ignorierte er mich den ganzen Abend, wurde eifersüchtig, weil ich mit einem anderen Typen redete, küsste mich, ging mit mir ins Bett und schlug mir dann am nächsten Morgen wieder psychisch ins Gesicht. Wie sollte irgendjemand auf dieser Welt diesen Jungen verstehen? Ok, irgendwo musste ihm ja wohl etwas an mir liegen, aber hatte er auch Gefühle für mich oder verwechselte er nur Liebe mit Freundschaft? Ich wusste, dass ihm die Nacht auch gefallen hatte, aber wieso war heute Morgen wieder alles anders gewesen? Er wusste einfach nicht was er wollte. Und ich wusste nicht was ich jetzt machen sollte. Sollte ich auf ihn warten und dann nochmal mit ihm reden? Aber vielleicht brauchte er jetzt auch einfach mal ein klares Zeichen, dass er sich entscheiden muss. Ich hatte ja schließlich auch keine Lust, dass er noch zehn Jahre mit meinen Gefühlen spielte. Ich warf die letzten Sachen in meine Tasche. Als ich in der Tür stand, drehte ich mich nochmal um. „Tschüss Zimmer, entweder das ist jetzt ein Abschied für immer oder... eben nicht.", dachte ich. Ich ging noch in die Küche um mir irgendwas zu essen mitzunehmen. Juli saß am Küchentisch und frühstückte. Verwirrt blickte er auf meine Tasche. „Du willst uns doch nicht etwa verlassen, oder?", fragte er. „Doch, muss leider wieder nach Hause.", antwortete ich und machte den Kühlschrank auf um ihn beim Lügen nicht angucken zu müssen. „Und Tim bringt dich nicht zum Bahnhof?", fragte er skeptisch weiter. „Nee, der musste ja zu Uni.", sagte ich und nahm mir einen Apfel. „Mh, ok.", sagte er und stand, mich immer noch skeptisch anguckend, auf. „Ich hoffe wir sehen uns mal wieder.", fügte er hinzu als er in meine Hand einschlug und mich kurz umarmte. „Ja vielleicht sehen wir uns schneller als du denkst, aber vielleicht auch nie wieder.", antwortete ich.

Ich saß auf der ersten Bank von Gleis 6. Der Zug nach Karlsruhe würde in 13 Minuten kommen. Ich starrte auf den Aufgang zum Gleis. So viele Menschen, aber kein Tim. Ich hoffte einfach, dass er gleich um die Ecke biegen und mich aufhalten würde. Alle Leute zogen an mir vorbei. Manche hatten es eilig, weil sie vermutlich beruflich unterwegs waren, andere lachten, weil sie in den Urlaub fuhren oder so was. Noch 11 Minuten. Ich wünschte mir die Zeit würde langsamer vergehen, vielleicht steckte Tim ja irgendwo fest und konnte deshalb nicht her kommen. Noch acht Minuten. Alle anderen warteten auf den Zug, ich wartete auf Tim. Noch sechs Minuten. Was wenn Tim einen Unfall gehabt hatte und deswegen nicht kam? Noch drei Minuten. In Gedanken sah ich ihn die Straße zum Bahnhof entlang rennen. Noch eine Minute. Er würde nicht mehr kommen. Der Zug fuhr ein. Alle Menschen um mich herum stellten sich an der weißen Linie auf. Ich beobachtete wie irgendwelche Leute aus dem Zug stiegen und andere wieder ein. Das Gleis war jetzt fast leer. Ich seufzte. Ok, das wars wohl. Ich stand auf und ging zum Zug. Ein Schaffner schaute mich genervt an, als ich auf den Knopf drückte um die Waggontür noch einmal zu öffnen. Zischend öffnete sie sich.



„Stegi." Endlich, endlich die erlösend Stimme. Er war hier her gekommen. Mir fiel der größte Stein der Welt vom Herzen. Ich musste lächeln, aber bevor ich mich umdrehte setzte ich wieder eine toternste Miene auf. Jetzt wollte ich erst mal eine seeehr gute Erklärung von ihm hören. Er bekam kaum Luft als er bei mir ankam, so schnell war er gerannt. „Was ist?", fragte ich und versuchte möglichst kalt zu klingen. „Ich...Bitte fahr nicht.", fing er an. „Und wieso sollte ich noch hierbleiben?", entgegnete ich. „Ja weil... Man...", versuchte er die richtigen Worte zu finden. Dabei guckte er überall hin, nur nicht in meine Augen. „Ja weil ich mich in dich verliebt hab, du Idiot. Als du mir das mit den Gefühlen und so gesagt hast, hab ich gemerkt, dass es mir eigentlich genauso geht. Aber ich wollte das einfach nicht wahr habe... Aber du hast mich dann ja quasi dazu gezwungen, was zu machen, als du fast mit diesem Typen rumgemacht hättest und... Es war einfach die beste Nacht meines Lebens, aber dann hab ich irgendwie wieder gedacht es kann nicht sein, dass ich was mit meinem besten Freund hab und dass ich schwul bin, aber...aber ich hab einfach gemerkt es geht nicht mehr ohne dich und dann hat Juli mich angerufen das du fährst und..." Er konnte nicht mehr weiter sprechen. Ich hatte ihn einfach küssen müssen. Ich meine wer hätte das bei so einer Erklärung nicht machen müssen? Ich spürte seine Lippen und alles fühlte sich wieder richtig an. Er küsste mich sofort zurück und das Feuerwerk von gestern war sofort wieder da. Er legte einen Arm um mich. „Will hier jetzt noch einer einsteigen?" Überrascht sahen wir beide auf. Der Schaffner stand vor uns und blitzte uns wütend an. „Ich glaube nicht.", entgegnete Tim und grinste. Er nahm meine Tasche über die Schulter und streckte mir die andere Hand hin. „Zu mir oder zu mir?", fragte er und lächelte sein wunderschönes Lächeln, als ich meine Finger mit seinen verschloss.


Buchstabensuppe (Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt