eins / one / une / .-
„Dankeschön. Auf Wiedersehen, Mister Benett", höre ich meine Mutter sagen. Er antwortet noch etwas darauf und bringt sie damit zum auflachen. Wahrscheinlich ist es nur ein weiterer, lächerlicher Flirtversuch seinerseits. Kurz darauf ertönt das Klacken der Tür und ich sehe durch das Wohnzimmerfenster, wie der Streifenpolizist zu seinem Wagen läuft. Verfluchtes Arschloch.
Meine Mutter gesellt sich wieder zu mir und sieht mich strafend an. Tatsächlich fühle ich mich wie ein Kleinganove. Das ganze Gespräch über musste ich schweigend auf dem Sofa sitzen und darauf warten, welches Urteil über mich gefällt wird.
Meine Mutter atmet tief ein und fährt sich dann durch die zerstrubbelten Haare. „Ist das dein Ernst, Austin?", fragt sie beängstigend ruhig und ich entscheide mich für das Schweigen.
„Es ist das vierte Mal in diesem Monat. Das vierte Mal. Wie tief willst du dich noch sinken lassen? Willst du, dass man dich in den Knast sperrt oder was?", schreit sie nun wütend und ich blicke stumm die Wand hinter ihr an.
„Anscheinend tun dir die Ferien nicht so gut, hm?"
Ich rolle mit den Augen und stehe auf. „Mum, deine Ansagen bringen dich auch nicht weiter. Lass mich hoch", meine ich. Fassungslos starrt sie mich an, als ich mich an ihr vorbeidrängen will.
„Vielleicht solltest du damit mal so richtig auf die Schnauze fallen. Drogen, ich glaube, ich habe da irgendwie was verpasst. Irgendwann sterben davon deine Gehirnzellen ab und du kannst direkt eingewiesen werden."
Ein kurzes Schweigen entsteht und sie lächelt mich plötzlich teuflisch an. „Vielleicht solltest du tatsächlich anfangen, bei uns zu arbeiten. Das wäre doch eine tolle Idee. Darauf hätte ich viel früher kommen sollen, dann machst du dich wenigstens nützlich." Sie überlegt kurz. "Ich melde dich gleich der Chefin als Aushilfe."
"Mum! Das kann nicht dein Ernst sein!"
Verunsichert sehe ich sie an. Sollte sie das ernst meinen, habe ich mehr als nur verkackt. Das kann sie mir verdammt noch mal nicht antun.
Ihre Gesichtsausdruck ändert sich jedoch kein Stück und sie starrt mich weiterhin kalt an. „Doch, es ist mein Ernst, Austin. Entweder du hilfst bei mir auf der Station aus oder dein Auslandsjahr ist für dich gestrichen! Ach Quatsch, du hast nicht mal eine Wahl. Verdammt, wie kannst du nur sowas tun?" Noch nie habe ich sie so streng erlebt. „Aber Mum, ich kann mit den kranken Psychos dort doch gar nichts anfangen!", rufe ich verzweifelt. Ich werde auf gar keinen Fall meine freie Zeit dafür aufopfern, um im Martin's Hospital Aushilfe zu spielen.
Die Augen meiner Mutter verengen sich und sie guckt mich wütend an. „Wie kannst du es wagen, kranke Leute so zu beleidigen! Glaubst du, sie wollen krank sein? Das ist nicht lustig, das weißt du genau. So habe ich dich nicht erzogen, Austin!", schreit sie völlig außer sich.
Na gut, vielleicht habe ich ein wenig übertrieben. Ich hätte ihre kranken Psychokids nicht beleidigen sollen. Sorry Mum, war nicht mit Absicht. Aber sie sind doch psycho, wenn sie in psychiatrischer Behandlung sind. Ich habe doch nichts Falsches gesagt?
„Hast du dazu garnichts zu sagen, junger Mann?"
Ich verkneife mir eine schnippische Antwort und betrachte den Boden. Mit meiner Mutter ist jetzt nicht mehr zu spaßen, sie meint es zu hundert Prozent todernst und ich bekomme das Gefühl, dass ich nicht wirklich was daran ändern kann. Vorteil für sie, verdammt großer Nachteil für mich.
„Morgen wirst du deinen ersten Tag antreten. Ich nehme dich morgens direkt mit zur Schicht und du wirst volle neun Stunden mit mir arbeiten. Wehe, ich bekomme mit, dass du unhöflich zu den Patienten oder den Angestellten bist, ich schwöre dir, dann kannst du direkt aufhören, von diesem idiotischen Auslandsjahr zu träumen", droht sie mir. Ich verfluche mich innerlich dafür, dass mir das so wichtig ist und sie es ganz genau weiß und es gegen mich verwenden kann.
„Und was soll es mir bringen, wenn ich dort aushelfe?", hinterfrage ich mürrisch. „Du engagierst dich wenigstens ein bisschen sozial und machst dich noch dazu nützlich. Bei uns mangelt es zurzeit an Arbeitskräften." Warum wohl, Mum? Keiner will mit psychisch kranken Kids zusammenarbeiten.
Ich stöhne frustriert auf. „Wenn ich es tue, darf ich dann nach Europa?", frage ich vorsichtig. „Nur, wenn du deine Arbeit ordentlich erledigst. Und keinen Mist mehr baust. Ich denke, die Polizeibeamten kennen den Weg zu uns bereits im Schlaf und ich will nicht wissen, wie oft dein Name in ihren Computern auftaucht", meint sie etwas lockerer. Ich ergreife sofort die Chance. „Bist du wirklich davon überzeugt, dass ich das machen soll?" Sie nickt. „Absolut."
Die Hoffnung verschwindet genauso schnell wie sie gekommen ist und ich presse wütend meine Lippen zusammen.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen stürme ich aus der Küche, greife nach meinem Handy und meiner Lederjacke. „Ja, hau nur ruhig ab. Kein Stück anders, als sein Vater, immer nur von den Problemen wegrennen. Aber Austin, irgendwann solltest du merken, dass nicht immer nur andere Schuld sind", höre ich sie noch rufen, bevor ich aus dem Haus laufe und die Tür hinter mir zuknalle. Wie schon so oft davor, brauche ich jetzt vorerst etwas Abstand von meiner Mutter.
Während ich laufe, checke ich meine Nachrichten ab. Immer wieder erscheint der Name von Annie, einem Mädchen aus der Stufe unter mir, auf meinem Display. Genervt drücke ich sie weg und verfluche meinen Klassenkameraden dafür, dass er ihr meine Nummer gegeben hat. Die Kleine ist wie eine Furie, dessen Leben aus krankem Stalking besteht. Sie ist eines der Mädchen, in dessen Wortschatz ich habe keine Interesse an dir nicht existiert.
Vor mir taucht der alte Spielplatz auf, auf dem ich früher immer gespielt habe. Er ist leer, verständlicherweise, die Spielgeräte sind schon seit langem nicht mehr sicher und die Sandkästen sind voller zersplitterter Bierflaschen und Kippenstummel. Ich lasse mich auf eine vermeintlich stabilen Bank nieder und krame nach meinen Zigaretten. Hastig zünde ich sie an und nehme einen tiefen Zug. Es beruhigt mich und ich kann allmählich wieder einen klaren Gedanken fassen.
Meine Mutter will, dass ich auf ihrer Station aushelfe. Auf der Station, die sich mit Magersüchtigen und Suizidgefährdeten beschäftigt. Leute, mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann. Leute, die in meinen Augen einfach nur krankes Zeug mit sich und ihrem Körper abziehen. Was, wenn sie anfangen rumzuheulen und mir ihre Lebensgeschichte auftischen? Das kann ich wirklich nicht gebrauchen, dafür sind meine Nerven zu schwach. Aber anderseits, das Auslandsjahr ist mir verdammt wichtig. Es wäre meine einzige Chance, meinen Vater nach all den Jahren endlich wieder zu sehen. Insgeheim denke ich, meine Mutter macht das absichtlich. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass sie nicht will, das ich Kontakt mit ihm aufnehme und es war der einzige Punkt, mit dem sie mich in der Hand haben und kontrollieren konnte. Ich seufze ein weiteres Mal frustriert auf. Das sind einfach viel zu viele Komplikationen auf einmal. Wieso kann ich nicht, wie jeder andere 17 - Jährige, über mich selbst bestimmen?
Ich greife wieder nach meinem Handy und überlege. Etwas Ablenkung wäre gut und auch, wenn ich sie jetzt wahrscheinlich für Ewigkeiten an der Backe haben werde, wähle ich Annies Nummer. Sie ist süß. Diese Form von kindlich süß, wie kleine Babyhasen. Wahrscheinlich ist sie deswegen so naiv und manipulativ. Angespannt überlege ich, ob mir etwas Gesellschaft gut tun würde und warte schließlich auf das Tuten, das mir mitteilt, dass ihre Nummer gewählt wurde und ihr Handy nun irgendwo wird.
„Austin?", ihre Stimme klingt hoffnungsvoll. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Sie war ein ideales Opfer für eine Entführung, diese Art von Mädchen, zu denen irgendwelche kranke Pädophile Kontakt über das Internet aufnahmen und die Gefühle der Mädchen schamlos ausnutzten und ausspielten.
Ich kann mir zu gut vorstellen, wie sie auf ihrem Bett sitzt und gespannt an ihrem Fingernagel rumkaut, während ich hier sitze und überlege, ob ich den Schritt wagen soll. Letztendlich entscheide ich mich dafür und seufze leise auf. „Na, hast du gerade Zeit?"
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Diese Geschichte widme ich allen, die gerade den Krieg gegen sich selber antreten. Und all' den Menschen, die denken, sie seien es nicht wert (Nur mal so nebenbei, ich schwöre, ihr seid es alle wert. Jeder einzelne von euch).überarbeitet am 28. Januar 2016
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Savannah
Teen FictionAustin ist verzweifelt, auf Kriegsfuß mit seiner Mutter und zu von ihr persönlich zugestellten Sozialstunden auf einer Krankenhausstation, die sich mit Suizidgefährdeten und Magesüchtigen beschäftigt, verdammt. Er wird konfrontiert mit Personen, die...