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achtzehn / eighteen / dix-huit.-

Schmunzelnd gebe ich ihr Recht.

„Aber dann bist du mir etwas anderes schuldig. Ein kleiner Deal, dafür, dass du hier auf meiner Couch sitzt und ich nicht direkt den Krankenwagen rufe, erzählst du mir was. Etwas, was relevant für deine heutige Situation ist", schlage ich vor und lehne mich zurück. Ihre Augenbrauen schießen in die Höhe. „Auf was spielst du an?"

„Ein guter Anfang wäre zum Beispiel, wieso du depressiv bist oder..", sie unterbricht mich mit einer Handbewegung. Ich halte inne und sehe sie an.

Stirnrunzelnd erwidert sie meinen Blick. „Ich bin nicht depressiv."

„Ich habe deine Akte durchgelesen Savannah, ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass auch 'Depression' vermerkt war", gebe ich verwirrt zurück, doch sie schüttelt nur mit dem Kopf und lacht verächtlich auf.

„Wie soll eine olle Tante, die Jahre mit dem Studium verbracht und nie was vom Leben mitbekommen hat, sagen, dass ich depressiv bin? Ich bin noch nicht mal zu den Therapiestunden erschienen, das ist, als würde  mir Google meine Diagnose geben."

„Du wurdest in die Jugendklapse eingewiesen Savannah, du bist da sicherlich nicht grundlos."

Sie zögert kurz und zuckt dann mit den Schultern. „Klar bin ich da nicht grundlos, aber  depressiv ist..irgendwie das falsche Wort dafür."

„Wie würdest du es denn nennen?"

Ratlos sieht sie sich im Wohnzimmer um. „Keine Ahnung. Ich bin nicht unglaublich traurig. Ich kann immer noch lachen und grottenschlechte Witze reißen, über die ich mir dann stundenlang den Hintern ablache. Ich würde es nicht als glücklich bezeichnen, dass bin ich nicht, aber ich befinde mich nicht in diesem, von allen als grausam beschriebenen, depressiven Zustand. Ich bin einfach nur nicht glücklich. Nachts, wenn ich alleine im Bett liege und nicht schlafen kann, ist mein Kopf voller Gedanken, die ein Jugendlicher nicht haben sollte. Und ich vergesse einfach, was ich fühlen soll. Ich vergesse, wie fühlen geht", erklärt sie stockend und ich sehe sie schweigend an.

Eine unangenehme Stille entsteht und ich denke über ihre Worte nach. „Was ist mit deinen Eltern?"

Sie pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zuckt mit den Schultern. „Was soll schon mit ihnen sein? Sie sind einfach da und unausstehlich. Ich hatte noch nie ein gutes Verhältnis zu ihnen. Sie haben sich damals eine Tochter gewünscht, eine talentierte Tochter, die Klavier spielt und immer nett und zuvorkommend ist. Eines dieser Vorzeigekinder, mit denen sie auf Galas und Treffen immer angeben können. Ich bin nicht so eine Tochter. Ich passe nicht in ihre gewünschte Schublade rein."

Ich lache leise auf und knibbele an meiner Nagelhaut herum. „Wer passt schon in die von den Eltern vorgegeben Schubladen hinein? Niemand", sage ich und sie nickt zustimmend.

Ich überlege mir weitere Fragen, bis mir das Offensichtlichste in den Sinn kommt. „Wieso isst du nichts, Savannah?", frage ich vorsichtig.

Ihre blauen Augen blicken mich aufmerksam ab. „Was ist daran so verwerflich, seinem Körper das zu entziehen, von dem er am meisten abhängig ist?", lautet die Gegenfrage. „Magersucht kann gefährlich enden", versuche ich es schonend zu formulieren.

Wieder folgt das allzu bekannte verächtliche Auflachen. „Austin, dein Denken ist süß. Aber ich bin mir sicher, du hättest eine aufregendere Geschichte hinter mir erwartet. Ich muss dich leider enttäuschen, ich bin weder aufregend noch interessant oder irgendwas in der Art. Ich wünschte, ich könnte wirklich eine tolle Geschichte erzählen, so eine filmreife, aber ich habe leider keine auf Lager. Und ich glaube, die Fragerunde ist hiermit beendet", meint sie. Genau in dem Moment, in dem ich noch weiter an der Frage herumhacken will, klingelt mein Handy. Genervt krame ich es aus meiner Hosentasche und die Nummer meiner Mutter erscheint. Ich sehe Savannah an, die meinen Blick ohne zu zögern erwiedert.

„Es ist meine Mutter", informiere ich sie und sie schmunzelt.

„Anscheinend ist es aufgefallen, dass die wichtigste Patientin verschwunden ist. Na los, geh schon ran. Wahrscheinlich machen ihr meine Eltern gerade das Leben zur Hölle."

Zögernd hebe ich ab und warte auf eine Reaktion meiner Mutter. Ich höre im Hintergrund die gewöhnlichen Krankenhausgeräusche und den lauten Lärm, der durch viele Gespräche entsteht. „Austin?", meldet sich meine Mutter endlich zu Wort.

„Ich weiß, dass du irgendwo mit ihr bist. Bring sie zurück, ihre Eltern warten", sagt sie. Ihr Tonfall klingt hart und kalt. Ich lege auf, ohne zu antworten, und nicke Savannah zu.

Sie rollt mit den Augen und steht auf. „Juhu, zurück in die Hölle!", ruft sie und ihre Stimme trieft vor Verächtlichkeit.

Ich lache, während ich mir meine Schuhe anziehe und nach den Autoschlüsseln greife. „Muss ich vor deinen Eltern Angst haben?", stelle ich die Frage, als wir zum Wagen laufen.

„Ohja, sie werden dich drannehmen. Aber sowas von", antwortet sie und reißt die Autotür auf. Ich lache und mache es ihr nach. Der Motor heult auf und ich gebe Gas.

„Nur keine Eile, ich möchte diese dramatische Rückkehr schön in die Länge ziehen. Und ich bin seit einer halben Ewigkeit nicht mehr Auto gefahren", eine kurze Pause folgt. „Interessant, dass sie sich ausgerechnet heute dazu entschieden haben, mich zu besuchen. Ich hatte gehofft, sie hätten mich vergessen. Aber dann hätte ich das dicke Erbe nicht gekriegt, wenn sie krepiert wären", murmelt sie leise vor sich hin und ich werfe einen kurzen Blick zu ihr herüber.

Wie sie so dran sitzt, tief in den Sitz gelehnt und mit dem Blick aus dem Fenster. Wie sie so zerbrechlich und doch voller Kraft dem bitteren Nachgeschmack des Lebens trotzt. Sie hat unrecht. Sie ist das wohl interessanteste Mädchen, die diese Stadt hergibt und während sie einfach nur sitzt und schweigt, würde ich alles dafür geben, um ihr weiter zuhören zu können.

SavannahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt