4. Kapitel

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Ein dumpfes Hämmern riss mich aus dem Schlaf. Widerwillig öffnete ich die Augen und setzte mich auf. Ich fühlte mich ziemlich zerknittert, wisst ihr wie ich meine - unausgeschlafen und irgendwie noch kaputter als am Vortag.
Ich griff nach meinen Handy und ignorierte das erneut einsetzende Hämmern. Wahrscheinlich an der Wohnungstür.
Das Handy fuhr hoch, das Apple Logo erschien weiß auf dem schwarzen Hintergrund. Akku schwach. Und die Uhrzeit - 14:21! Wie lange hatte ich geschlafen? Mein erster Tag in Barcelona und ich verschlief ihn. Fantastisch. Ich kletterte aus dem Bett und sammelte im Halbdunkeln meine Klamotten auf, die zerstreut auf dem Boden lagen. Schlüpfte in meine Hot Pants, griff mir ein frisches Shirt aus dem Koffer und band mir die Haare zu einem Dutt zusammen. Als ich gerade die Jalousie hochzog, hämmerte es erneut an der Tür. Diesmal energischer. Das konnte doch nicht wahr sein. Warum machte denn niemand auf? Genervt stürmte ich aus meinem Zimmer und riss die Wohnungstür auf. Davor stand ein dünner Junge mit dunklem Haar, etwa mein Alter.
"Buongiorno?"
Der Junge sah mich verdattert an und erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn auf Italienisch begrüßt hatte.
"Buenos días", verbesserte ich mich und er nickte und murmelte irgendetwas zurück. Dann schob er sich an mir vorbei in die Wohnung. Jetzt war ich es, die verdattert dreinschaute. Ich hatte Mingos Familie gestern kennengelernt und an diesem Typen konnte ich mich eindeutig nicht erinnern.
Ich folgte ihm in die Küche, wo er begann dreckiges Geschirr von der Spüle auf den Boden zu stellen. Stirnrunzelnd sah ich ihm dabei zu und versuchte mich daran zu erinnern, was auf Spanisch "Was machst du da?" hieß. Er drehte sich zu mir um und begann, irgendwas zu erzählen. Er hatte einen ziemlichen Dialekt, aber ich verstand die Wörter Spüle, kaputt, rostig und kein Problem. Ich nickte. Er wollte also das Spülbecken reparieren, jedenfalls war das das einzige, was irgendwie Sinn machte.
Ich fragte mich, ob Mingo sauer darüber sein würde, dass ich ihn einfach hereingelassen hatte. Also, genau genommen hatte er sich ja einfach hereingedrängt und außerdem hatte mir gestern Abend niemand erzählt, dass morgen ein Klempner kommen würde. Und vor allem - wo waren sie überhaupt alle? Mingo, seine Schwester, seine Mutter? Denn hier schienen sie nicht zu sein.
Ich lief zurück ins Schlafzimmer und nahm mein Handy, wählte Mingos Nummer. Beim dritten Klingeln ging er ran.
"Hey, ist alles klar bei dir?" Er klang ziemlich gut gelaunt.
"Naja, ich stehe mit einem fremden Typen in eurer Küche und er schraubt am Spülbecken rum, ihr seid nicht da und ich weiß von nichts. Aber ja, sonst passt alles soweit", entgegnete ich und griff nach der Schachtel Zigaretten, die auf dem Nachtisch lag.
Mingo stöhnte. "Ach, Javier! Den hab ich ganz vergessen. Meine Mutter hat gestern noch etwas erwähnt davon, dass er vorbeikommen würde um das Ding zu reparieren."
Ich zündete mir eine an. "Okay. Und wo seid ihr gerade?"
"Wir wollten nur einkaufen, aber jetzt sitzen wir bei einer Freundin meiner Mutter, die wir auf dem Weg getroffen haben. Ich wollte dich nicht wecken und ich dachte, es dauert nicht allzu lange bis wir wieder kommen", erklärte er etwas zerknirscht.
"Ja, ist nicht schlimm, ich hab mich nur gewundert. Ich mach dem Klempner mal einen Kaffee und schau ob er seinen Job gut macht. Und dann werd ich auch raus gehen und mich ein bisschen umsehen in der Gegend." Ich inhalierte den Rauch. "Ich meine, was habt ihr mir in den Wein getan gestern dass ich 16 Stunden schlafe?", witzelte ich.
Mingo lachte. "Also erstens - der Klempner hat einen Namen und zweitens: Hättest du mal nicht vier randvolle Gläser getrunken, wärst du schon lange wach. Ich wette, du fühlst dich nicht gerade wie neu geboren."
"Naja."
"Verständlich. Wir sind bald zurück, schau dir ruhig Barcelona an. Aber geh nicht zu weit, ich hab keine Lust einen Suchtrupp losschicken zu müssen."
"Wirklich witzig. Keine Angst, ich markier den Weg mit Kreide. Bis später." Ich legte auf und ging zurück in die Küche.
Dort war Javier fleißig dabei, die Küche in seine Einzelteile zu zerlegen.
"Tutto a posto?" Verdammt, schon wieder Italienisch.
Er drehte sich zu mir um. "Italia?", fragte er mit einem schüchternen Lächeln. Ich nickte und antwortete in gebrochenen Spanisch, dass ich nicht viel von der Sprache beherrschte.
"Kein Problem, ich versteh dich schon ein wenig." Lächelnd widmete er sich wieder der Arbeit. Wir plauderten weiter - er, bemüht darum den katalanischen Dialekt zu unterdrücken und ich bemüht darum, einen einigermaßen verständlichen Mix aus Italienisch und meinem Schulspanisch zu bilden. Ich erfuhr, dass Mingo und er sich seit seiner Geburt kannten, da ihre Mütter befreundet waren. Und dass er eigentlich gar nicht Klempner war, sondern Verkäufer in einem Gemüseladen, doch er jetzt Pause hatte, wegen der Siesta.
Wir schwiegen eine Weile und ich sah ihm zu. Dann setzte ich Kaffee auf und fragte ihn, ob er hungrig war.
Er schüttelte den Kopf, hörte auf zu arbeiten und sah mich zögerlich an. "Ich... Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hast... Naja, ein bisschen Barcelona mit mir anzusehen."
Nachdem er den letzten Satz gesagt hatte, wandte er sich wieder der Arbeit zu. Hektisch jetzt. Was für ein schüchterner Typ. Aber eigentlich ganz süß.
"Klar, warum nicht," antwortete ich ihm und bemerkte, wie er tief ausatmete. "Und übrigens, ich heiße Marcella."

Wir tranken den Kaffee im Stehen auf dem Balkon. Er bot mir eine Zigarette an und wir redeten über Barcelona. Was man so machen konnte. Ob es hier moderne Künstler gab, wollte ich wissen. Javier zuckte mit den Schultern. Über Kunst wisse er nicht viel, aber über Fußball umso mehr. Er erzählte, dass er großer Fan des FC Barcelona war und wollte wissen, ob ich mich für Fußball interessierte.
"Nein, nicht so," entgegnete ich und trank einen Schluck von meinem Kaffee.
"Schade. Ich hätte dich gerne mal mitgenommen zu einem Spiel. Mein Vater kennt den Manager, weißt du. Ich sehe mir jedes Spiel an - ohne etwas zu zahlen", erzählte er strahlend und ich musste auch lächeln.
"Vielleicht komm ich ja mal mit."
"Wirklich? Das wäre klasse!" Er strahlte noch mehr.
In diesem Moment kam Mingo herein. Er stellte die Einkäufe auf den Tisch und quetschte sich zu uns auf den Balkon.
"Javier!"
"Heeey Mingo!" Die beiden Freunde umarmten sich und Javier deutete auf mich. "Nettes Mädchen hast du mitgebracht."
"Warte, bis du sie richtig kennst", entgegnete Mingo und grinste mich an.
Ich verdrehte die Augen und zeigte ihm den Mittelfinger. Doch dann lachte ich auch.
"Sie kommt mit ins Camp Nou", erzählte Javier und Mingo nickte.
"Die Blaugranas endlich wieder live sehen. Darauf freu ich mich echt am meisten."
Sie redeten noch eine Weile über Fußball. Ich blendete ihr Gespräch aus - noch dazu verfielen jetzt beide in diesen Dialekt, den ich kaum verstand - und ließ meinen Blick über die Dächer der Stadt gleiten. Mingo hatte mir gestern erzählt, dass dieses Viertel La Salud hieße und zu dem Bezirk Gràcia gehörte, dem Künstlerviertel Barcelonas. Touristen sah man hier selten, da es immer noch ein Geheimtipp war und diese sich außerdem eher am Strand Barceloneta tummelten. Die Häuser waren teilweise stark heruntergekommen, Dachziegel fehlten, Fenster waren eingebrochen oder mit Brettern verschlagen. Daneben stand wiederum ein architektonisches Kunstwerk, mit orientalisch verzierten Fenstern, umsäumt von Palmen. Es war ein komischer Anblick.
Vom Meer sah man hier nicht viel, obwohl wir nur etwa 7 Kilometer davon entfernt waren.  Es war ein wirklich heißer Tag heute und ich sehnte mich nach einer Abkühlung. Ob die Jungs mit einem Ausflug nach La Barceloneta einverstanden wären?
Ich schlug es vor und Mingo lachte auf. "In Barceloneta wirst du überrannt von Touristen, Marcella. Es gibt einige bessere Strände, ein wenig außerhalb von Barcelona."
"In Castelldefels, zum Beispiel", ergänzte Javier. "Ist vielleicht eine halbe Stunde mit dem Auto."
"Okay, ist mir recht. Also, was ist? Seid ihr dabei?", fragte ich und die beiden nickten.
"Dann lasst uns schnell noch ein paar Brote schmieren und Badezeug packen - und dann los."

Liebe zwischen zwei WeltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt