10. Kapitel

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"Señorita, Ihre Tapas", sagte der junge Verkäufer höflich lächelnd und drückte mir zwei Pappteller in die Hand.
"Gracias", antwortete ich, drehte mich zu Mingo um und gab ihm den seinen. Wir schlenderten weiter, auf der Suche nach einem ruhigeren Platz zum Essen. Das Straßenfest in Gràcia war in vollem Gange. An jeder Ecke spielten Musiker, es gab Tanzaufführungen und leckeres Essen. Die Spanier waren eben - wie auch die Italiener - Genussmenschen. Sie wussten, wie man feiert und das Leben genießt. Dolce Vita, sag ich da nur.
"Dort drüben?" Mingo zeigte auf einen Mauervorsprung. Ich nickte und wir ließen uns dort nieder. Er hatte sich von dem unschönen Vorfall am Nachmittag schnell erholt, jammerte  nur ab und an über seinen schmerzenden Nacken. Aber er nahm es mit Humor. Die Geschichte war einfach so unglaublich, dass wir beide nur darüber lachen konnten. Auch Javier hatte sich kaum noch halten können vor Lachen und verfluchte sich selbst, dass er ein Stück weiter weg gegangen war, um Muscheln zu suchen, als Mingo eins übergebraten bekommen hatte. Leider war Leon - so hieß er, wenn ich mich recht erinnere - schon weg gewesen, als Mingo wieder zu sich gekommen war. Ein wirklich netter Mann. Wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden. Und ich hätte es Mingo schon gegönnt, seinen Peiniger persönlich kennenzulernen.
Plötzlich fing dieser neben mir an zu lachen. "Marcella", prustete er mit vollen Mund und hielt mir seinen Pappteller unter die Nase, "Schau dir das an. Du hast jemanden dem Kopf verdreht."
Stirnrunzelnd beugte ich mich vor und warf einen Blick auf seinen Teller. Und auf dem gewellten Rand stand geschrieben: 'Call me!' Und eine Handynummer.
Ich lachte. "Oh man, seid ihr Spanier echt solche Lappen im Anmachen von Mädchen? Ehrlich gesagt hätte ich mir schon mehr erhofft. Die Nachricht schreibt der doch jeder x-beliebigen Tussi auf den Tellerrand." Ich schob mir ein weiteres Hackfleischbällchen in den Mund und ergänzte: "Aber vielleicht meint er ja auch dich? Steht ja immerhin auf deinem Teller."
Mingo verdrehte die Augen, konnte sein Grinsen allerdings nicht unterdrücken. "Ha ha ha, sehr witzig. Irgendwie wusste ich ja schon, dass so etwas kommt." Er hielt inne und warf einen Blick auf sein Handy. "Und rate, wer auch kommt. Javier!"
"Schön, dann..."
"Dann bin ich endlich nicht mehr allein mit dieser Idiotin", beendete Mingo meinen Satz und stand auf. "Weiter?"
Ich nickte, biss in das letzte Bällchen und knüllte das Pappding zusammen.
Und dann sah ich ihn. Und verschluckte mich. Und hustete wie blöd.
"Hey, langsam," meinte Mingo besorgt und schlug mir sanft auf den Rücken, bis sich mein Hustenanfall gelegt hatte.
Vor ein paar Stunden hatte mir jemand anderes auf den Rücken geklopft. Und zwar er! Leon! Wo war er denn jetzt hin? Ich hatte ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, aber ich wusste, dass er es gewesen war. Hektisch machte ich mich von Mingo los und lief in die Richtung, in die Leon verschwunden war, ignorierte die Rufe meines besten Freundes und kämpfte mich durch die Menschenmassen. Wenn ich so zurückdenke, hatte ich in diesem Augenblick keine Ahnung, warum ich ihn so verbissen gesucht hatte. Es ging einfach - im wahrsten Sinne des Wortes durch mit mir. Ich war wie hypnotisiert.
Mein Blick glitt über zahlreiche fremde Gesichter. Doch er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Gerade wollte ich enttäuscht aufgeben, als ich seinen dunklen Haarschopf entdeckte. Ich hätte bei einer Auswahl von tausend schwarzhaarigen Hinterköpfen seinen sofort erkannt.
Er hatte mir den Rücken zugewandt und redete mit einem Jungen. Jetzt unterschrieb er irgendwas und gab es dem Jungen zurück, klopfte ihm auf die Schulter. Ging weiter.
Ich setzte mich wieder in Bewegung und eilte ihm hinterher. Irgendwie fiel mir währenddessen auf, dass es ziemlich verzweifelt rüberkommen musste und ich änderte meinem Plan. Er ging vorderhalb der Stände, also schlängelte ich mich durch die Reihen der wartenden Menschen hindurch und lief hinterhalb der Buden weiter. Noch einmal - ich hatte keine Ahnung, was los war mit mir.
Ich stolpere über leere Getränkekisten und Mehrfachsteckdosen inklusive Kabel, aber ich wusste, ich musste schneller sein als er, um ihm den Weg abzuschneiden.
Also setzte ich meinen Hürdenlauf, so schnell ich konnte, fort. Nach gefühlten 100 Ständen wechselte ich wieder auf die Vorderseite der Verkaufsbuden. Mein Herz raste. Vorsichtig blickte ich mich um, doch von ihm keine Spur. Also bestellte ich eine Coke light, um nicht allzu blöd rumzustehen. Der Verkäufer drückte mir das Wechselgeld in die Hand und ich wandte mich zum gehen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.
"Hallo Marcella", murmelte eine sanfte Stimme.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 26, 2015 ⏰

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